Full text: [Teil 2 = 3. u. 4. Schulj] (Teil 2 = 3. u. 4. Schulj)

XXV. §. 9. Deutschlands Elend, Schmach und Knechtschaft. 617 
keine Möglichkeit, zu helfen, noch war Preußen so gut wie ein französischer 
Vasallenstaat; überall schlichen dieSpione des Kaisers umher, seine Winke 
mußten unbedingt erfüllt werden — in Preußen, in Oestreich, in ganz 
Deutschland. Soeben schleppte er die deutsche Kaisertochter Marie 
Louise als erwünschte Siegesbeute (die Taube in Geierskrallen) zur 
ehebrecherischen Hochzeit auf den französischen Kaiserthron. 
Zwei Worte der theurenpreußischen Königin Louise sind aus dieser 
Zeit des Elends und der Knechtschaft bekannt genug. Das eine: wir 
waren eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrich's d. Großen und 
merkten nicht, daß neue Weltzustände sich bildeten, daher stürzte unsere 
abgestorbene Staatsordnung zusammen, sobald die neue Zeit sie be¬ 
rührte. Aber noch viel schöner, kürzer und tiefer ist das andere Wort: 
weil wir abgefallen waren, darum sind wir gesunken. Ab gefallen, 
darin liegt der Schlüssel der dunkeln, schweren Führung, welche die 
hohe Frau sammt ihrem frommen, ernsten, gerechten Gemahl und ih¬ 
rem ganzen Volk durchmachen mußte. Abgefallen von Christo, abge¬ 
fallen vom Glauben, ohne Sündenerkenntniß, ohne Buße, ohne Heils¬ 
verlangen war bei Weitem die größte Masse der Gebildeten in Preu- 
ßenland und in ganz Deutschland. Vergebens war noch i. I. 1788 
ein neues Religionsedict in Preußen erlassen, um doch wenigstens die 
Theologen, die Geistlichen, die Lehrer an ihre Psiicht zu erinnern, und 
um das Weiterschreiten auf dem bodenlosen Wege des Unglaubens und 
der Aufklärerei zu hindern. Die vordringende Fluth des Zeitgeistes 
war zu gewaltig und zerriß alle Dämme. Freilich der freche, gottes¬ 
lästerliche Spottgeist, der sich in der Mitte des vorigen Jahrhunderts 
von Frankreich herüber in Deutschland eingebürgert hatte, verbunden 
mit der gottlosesten, sittlichen Ausgelassenheit, hatte durch seine eigene 
Bodenlosigkeit und durch die Greuel der französischen Revolution sich 
bei allen ehrbareren Gemüthern bereits selber gerichtet. Das Ge¬ 
wissen war wieder aufgeweckt, war insonderheit durch den Königs¬ 
berger Philosophen Kant (ff 1804) in alle seine Rechte und Wür¬ 
den wieder eingesetzt; vielmehr das Gewissen (der kategorische Imperativ) 
war an die Stelle von Christenthum, Glaube, Kirche, Gotteswort auf 
den Thron gesetzt und sollte der einzige Wegweiser und Leitstern durch 
das Menschenleben, die einzige Quelle alles Friedens und aller Glück¬ 
seligkeit sein. Nicht als ob Kant zu den Gottesleugnern gehört hätte, 
nicht als ob er auch mit in den Kampf gezogen wäre wider Christus 
und sein heiliges Reich. Nein, er ließ das alles stehen, er bewies den 
Christusleugnern und Spöttern, daß es Unsinn wäre, darüber zu strei¬ 
ten; denn Alles, was über Raum und Zeit hinausliege, gehöre gar 
nicht in den Bereich der menschlichen (reinen) Vernunft. Offenbarung, 
Kirche, Christentbum seien sehr nützliche Hebel für die Menge, um der 
Stimme des Gewissens nachzuhelfen, deshalb solle man ihr diese Güter 
ungeschmälert lassen. Nun ja, das war denn freilich etwas. Man 
konnte sich einbilden, mit der kantischen Vernunft und dem kantischen 
Gewissen einmal wieder einen festen Boden unter den Füßen gewonnen
	        
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