Full text: (Viertes und fünftes Schuljahr) (Teil 2 für Kl. 6 u. 5)

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Sie war einer großen Gefahr entronnen. Das war Summ-Summ 
klar. Und sie freute sich darüber und rieb sich die Vorderpfoten 
vor Vergnügen. Aber die kleine Summ-Summ war ein gutes Geschöpf. 
Sie dachte nicht an sich allein. Sie dachte auch an die andern, die 
Geschwister, die Vettern, die Muhmen, die Nachbarinnen, Freun¬ 
dinnen und Bekannten, mit denen sie in der fröhlichen Jahreszeit 
so viele schöne Stunden verspielt, verflogen und versummt hatte. 
Was wohl aus ihnen geworden sein mochte? Sie waren sicher 
alle gestorben; denn sonst würde doch mindestens die eine oder 
die andre einmal zu Besuch kommen. Es kam aber keine. Das 
machte Summ-Summ sehr traurig, und obschon es ihr persönlich 
gut ging, saß sie doch nun häufig still in einer Ecke und seufzte 
und grämte sich um die Toten. Vielleicht weinte sie auch manchmal; 
aber ich kann es nicht sagen; denn die Tränen einer Fliege sind 
so klein, daß man sie nicht sieht, wenn man nicht scharf aufpaßt. 
Summ-Summ aß gut und trank gut, und es war ihr warm, und 
sie schlief gut, nur ein bißchen zu viel, und sie wurde fett und träge, 
so daß sie lieber saß oder ein wenig an der Wand und Decke hin¬ 
kroch als flog. Das Fliegen wurde ihr zu beschwerlich. Sie wunderte 
sich, daß sie, die sonst so behend gewesen, eine so schwerfällige 
Person geworden war; aber sie gewöhnte sich allmählich daran. 
Man gewöhnt sich an alles, selbst an die Einsamkeit; daran freilich 
am schwersten. 
Wenn sie ihren trüben Gedanken nachhing, so wurde ihr die 
Brust beklommen und der Kopf schwer, und selbst Zucker, Kuchen 
und Kaffee schmeckten ihr nicht recht. Was nutzt aller Reichtum, 
wenn man ihn mit niemand teilen kann? 
Der Winter ging endlich auch vorbei, der Frühling kam, die 
Sonne schien wieder hell und warm, und draußen konnte man an 
den dürren Zweigen der beiden Bäume im Garten einen grünen 
Anflug bemerken. 
Da geschah eines Vormittags etwas Wunderbares. Marie öffnete 
das Küchenfenster ganz weit, würzig frische Luft strömte ein, die 
Summ-Summ zuerst schaudern machte, dann aber verjüngte und neu 
belebte. Nach einigem Zaudern wagte sie, ihren Winkel zwischen 
Decke und Wand zu verlassen und bis ans geöffnete Fenster zu 
fliegen. Und siehe da — kaum war sie hinausgelangt, da hörte sie 
rings herum das teure, lang entbehrte Summen der Ihrigen, eine
	        
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