Full text: (Viertes und fünftes Schuljahr) (Teil 2 für Kl. 6 u. 5)

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Kriemhild aber hatte böse Ahnungen, als Siegfried von ihr für 
die Fahrt zur Jagd Abschied nahm. Sie erzählte diesem, sie habe 
die Nacht geträumt, wie zwei wilde Eber ihn über die Heide jagten, 
da seien die Blumen rot geworden von seinem Blute. Inständig bat 
sie den geliebten Gatten, von der Jagd fernzubleiben. Der aber sagte: 
„Liebe Traute, in kurzer Zeit kehre ich wieder; denn niemand trägt mir 
hier Hatz oder Neid." So waren ihre Warnungen vergeblich. Nach 
einem herzlichen Abschied trennte sich der Held von seinem Weibe; 
er sollte es nie wiedersehen. — Lustiger Hörnerklang begleitete die 
Helden zum fröhlichen Weidwerk im grünen Odenwald, und Berge und 
Schlünde hallten bald wider vom Getöse der Jagd. Bären und Eber, 
Auerochsen und Elche erlagen den Speeren und Pfeilen der Jäger. 
Allen zuvor aber tat es Siegfried an Gewandtheit und Kraft; als das 
Horn zum Sammeln geblasen ward, da hatte niemand so viel Wild 
erlegt als er. Ermüdet lagerten sich die Helden zum Mahle. Aber 
den Durstigen fehlte der Wein. Da sagte der arge Hagen, der heim¬ 
lich die Schuld davon trug: „Ich weitz hier bei einer Linde einen frischen 
Quell, dort möget ihr euren Durst stillen." Siegfried war dazu bereit, 
und sogleich brachen alle Jäger auf. Da sprach der Treulose weiter: 
„Ich habe immer gehört, datz niemand imstande ist, Siegfried im 
Laufe zu folgen, so schnell soll er sein. Könnten wir doch das einmal 
sehen!" „Ihr möget das mit mir versuchen," antwortete der Held; 
„ich will mit meinen Kleidern, Waffen und meinem Jagdzeug laufen, 
ihr aber könnt es ledig tun." Da liefen die drei, Günther, Hagen 
und Siegfried, ab; aber so schnell die beiden andern auch waren, Sieg¬ 
fried gelangte zuerst zur Stelle. So grotz sein Durst nun auch war, 
er trank doch nicht eher, als bis Günther herangekommen war und ge¬ 
trunken hatte. Da erst legte er seine Waffen beiseite und bückte sich über 
den Quell. Diesen Augenblick hatte sich Hagen zur Mordtat ersehen. 
Schnell entfernte er Siegfrieds Bogen und Schwert, ergriff den Speer, 
spähte nach dem Zeichen auf dem Gewand und stietz die Spitze hinein, 
datz ein roter Blutstrahl aus der Wunde hervorschotz; daraus floh 
er eilig davon. So war er nie vor einem Manne gelaufen, wie vor 
dem todeswunden Helden. Als dieser zur Besinnung kam, sprang er 
auf und suchte nach seinen Waffen, während die Speerstange aus seiner 
Achsel emporragte. Als er aber nicht fand, was er suchte, ergriff er 
seinen Schild, rannte hinter dem Fliehenden her, erreichte ihn und hieb 
so gewaltig auf den Mörder ein, datz der Wald von den Schlägen
	        
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