II. Fabeln, Märchen, Sagen und
Geschichten.
30. Untreue.
1. Eine Maas wäre gern über ein Wasser gewesen, konnte aber
nicht und bat einen Frosch um Rat und Hilfe. Der Frosch war ein
Schalk und sprach zur Maus: „Binde deinen Fuß an meinen Fuß, so
will ich schwimmen und dich hinüberziehen!“ Da sie aber aufs Wasser
kamen, tauchte der Frosch unter und wollte die Maus ertränken.
Indem aber die Maus sich wehret und arbeitet, fliegt eine Weihe daher
und erhascht die Maus, zieht den Frosch mit heraus und frißt sie beide.
Martin Luther.
31. Die Stadtmaus und die Feldmaus.
1. Eine Stadtmaus ging spazieren und kam zu einer Feldmaus; die
tat ihr gütlich mit Eicheln, Gerste, Nüssen und womit sie konnte. Aber
die Stadtmaus sprach: „Du bist eine arme Maus, was willst du hier in
Armut leben? Komm mit mir! ich will dir und mir genug schassen von
allerlei köstlicher Speise." Die Feldmaus zog mit ihr in ein herrliches,
schönes Haus, worin die Stadtmaus wohnte, und sie gingen in die Vorrats¬
kammer; da war vollauf von Brot, Fleisch, Speck und Würsten, Käse und
anderem. Da sprach die Stadtmaus: „Nun iß und sei guter Dinge!
Solche Speise habe ich täglich überflüssig." Indes kommt der Kellner
und rumpelt mit den Schlüsseln an der Tür. Die Mäuse erschraken und
kiesen davon; die Stadtmaus fand bald ihr Loch, aber die Feldmaus
wußte nirgends hin, lief die Wand auf und ab und brachte kaum ihr
Leben davon.
2. Da der Kellner wieder hinausgegangen war, sprach die Stadtmaus:
„Es hat nun keine Not; laß uns guter Dinge sein!" Die Feldmaus
antwortete: „Du hast gut sagen; du wußtest dein Loch sein zu treffen,