I. Abteilung.
Geschichte, Biographie, Naturbeschreibung,
Kultur- und Kunstgeschichte.
Sage und Geschichte
von Wackernagel.
Sage heißt eigentlich und ursprünglich so viel als Erzählung über¬
haupt, die altnordische Sprache versteht darunter auch eine streng historische
Geschichtserzühlung. Hier jedoch nehmen wir das Wort in dem Sinne,
welchen die neuere Zeit ihm gegeben hat. Bei der Sage in diesem
Sinne ist vor allen übrigen Seelenkräften das Gedächtnis thätig, aber
auch die Phantasie tritt wirkend hinzu, und nicht minder leisten Gemüt und
Verstand angemessene Hilfe. Die geschichtliche Wirklichkeit, aus der sie
schöpft, ist jedesmal die Geschichte desjenigen Volkes, bei welchem sie sich
bildet; sie geht auf seine Thaten und Erlebnisse, seine Helden und Weisen.
Aus der Masse aber dieses historischen Stoffes erscheint in der Sage immer
nur soviel herausgehoben und beibehalten, als erforderlich oder hinlänglich
ist, um die angeschaute göttliche Idee in sich aufzunehmen; was aber
von geringerer Bedeutung ist, was die Anschauung stören und verdunkeln
kann, läßt sie getrost fallen; ja es wird nicht bloß verschwiegen, es
werden sogar historische Thatsachen umgestaltet; noch mehr, es werden
von der Phantasie unhistorische Züge unter die historischen gemischt: alles
das nur, um die Idee noch besser zu ergreifen, noch angemessener ein¬
zukleiden. So liebt die Sage namentlich das Wunderbare, das Wunder¬
bare als das unleugbarste Merkmal der waltenden Hand Gottes. Sage
ist also auch Geschichte, aber erhoben zur Höhe der Idee, Geschichte,
berichtigt vom religiös-sittlichen Standpunkte aus, Geschichte von einer
mehr als bloß gemeinen Wahrheit. Sie ist gleichsam die vox populi
vox dei über die Geschichte, oder, wie Görres treffend sagt, „der feurige
Wein, in den die Geschichte, durchwärmt vom Lebensgeiste des Volkes,