Full text: (Viertes und fünftes Schuljahr) (Teil 2 für Kl. 6 u. 5)

im Strudel zugrunde, weil sie nicht mehr auf den Lauf des Fahrzeuges 
achteten, sondern durch die himmlischen Töne der wunderbaren Jung¬ 
frau gleichsam aus dem irdischen Leben hinweggelockt wurden. Niemand 
hatte noch die Jungfrau in der Nähe geschaut als einige junge Fischer; 
zu diesen gesellte sie sich bisweilen im letzten Abendrot und zeigte ihnen 
die Stellen, wo sie ihr Netz auswerfen sollten, und jedesmal, wenn sie 
den Rat der Jungfrau befolgten, taten sie einen reichlichen Fang. Die 
Jünglinge erzählten nun, wohin sie kamen, von der Huld und Schönheit 
der Unbekannten, und die Geschichte verbreitete sich im ganzen Lande 
umher. 
Ein Sohn des Pfalzgrafen, der damals in der Gegend sein Hof¬ 
lager hatte, hörte die wundervolle Mär und fatzte eine innige Zu¬ 
neigung zu der Jungfrau. Unter dem Vorwand, auf die Jagd zu 
gehen, nahm er den Weg nach Wesel, setzte sich dort auf einen Nachen 
und liefe sich stromaufwärts fahren. Die Sonne war eben untergegangen, 
und die ersten Sterne traten am Himmel hervor, als sich das Fahrzeug 
dem Lorelei näherte. „Seht ihr sie dort, die verwünschte Zauberin? 
Das ist sie gewiß!" riefen die Schiffer. Der Jüngling hatte sie aber 
bereits erblickt, wie sie am Abhange des Felsenberges, nicht weit vom 
Strome, saß und einen Kranz für ihre goldnen Locken band. Jetzt 
vernahm er auch den Klang ihrer Stimme und war bald seiner Sinne 
nicht mehr mächtig. Er nötigte die Schiffer, am Felsen anzufahren, 
und noch einige Schritte davon, wollte er ans Land springen und die 
Jungfrau festhalten; aber er nahm den Sprung zu kurz und versank in den 
Strom, dessen schäumende Wogen schauerlich über ihm zusammen¬ 
schlugen. 
Die Nachricht von dieser traurigen Begebenheit kam schnell zu den 
Ohren des Pfalzgrafen. Schmerz und Wut zerrissen die Seele des 
armen Vaters. Er erteilte auf der Stelle den strengsten Befehl, ihm 
die Unholdin tot oder lebendig zu liefern. Einer seiner Hauptleute 
übernahm es, den Willen des Pfalzgrafen zu vollziehen; doch bat er 
sich aus, die Here ohne weiteres in den Rhein stürzen zu dürfen, damit 
sie sich nicht vielleicht durch lose Künste aus Kerker und Banden befreie. 
Der Pfalzgraf war dies zufrieden. Der Hauptmann zog gegen Abend 
aus und umstellte mit seinen Reisigen den Berg. Er selbst nahm drei 
der Beherztesten aus seiner Schar und stieg den Lorelei hinan. Die 
Jungfrau saß oben auf der Spitze und hielt eine Schnur von Bern¬ 
stein in der Hand. Sie sah die Männer herankommen und rief ihnen
	        
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