Full text: Neuntes Schuljahr (B)

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den fernen Gestaden der Ostsee kommen, wo er unter ähnlichen klima¬ 
tischen Verhältnissen so vortrefflich gedieh, und säete ihn hier mit 
gleichem Erfolge. Bald sah man an Stelle der frühern kahlen und stei¬ 
nigen Hänge jetzt freundliche Wiesenflächen, wechselnd mit einträg¬ 
lichen Ackerstücken. Auch den Obstbau* führte er ein, und wenn auch 
Walnuß und Kirsche nicht gedeihen wollten, so sah man doch allmählich 
an den meisten Hütten einige junge Bäumchen emporwachsen. Das 
Aussehen der Hütten selbst ward freundlicher, und schon von ferne 
hörte man das Sausen der Webstühle, das Schnurren der Spinnräder aus 
dem Steintale. 
Das waren alles die Verdienste des treuen Pfarrers, dessen segens¬ 
reiche Tätigkeit mit jedem Tage sichtbarer vor Augen trat. Wer 
möchte alle die wohltätigen Einrichtungen aufzählen, mit welchen er 
den redlichen Arbeiter förderte, dem Notleidenden aufhalf, den Müßig¬ 
gänger zum ehrenhaften Broterwerbe nötigte, wie die von ihm ins Leben 
gerufene Darlehnskasse, die Spar- und Armenkassen, die Anweisung zur 
Erlernung von Handwerken, die er jungen Leuten seiner Gemeinde in 
Straßburg erteilen ließ, und des Guten mehr. 
7. Bald machte sich das Bedürfnis eines Verkehrs mit der Außen¬ 
welt fühlbar. Die einzige Straße, auf welcher ein Fuhrwerk aus dem 
Steintale nach Schirmeck gelangen und dort die Landstraße nach 
Straßburg erreichen konnte, war das Flußbett des wilden Hochgebirgs- 
wassers, der Breusch. Die Bauern sahen die Notwendigkeit einer Fahr¬ 
straße wohl ein. Als aber Oberlin ihnen zumutete, auch hierfür selbst 
Sorge zu tragen, meinten sie, daß ein solches Unternehmen doch über 
ihre Kräfte hinausginge. Da nahm der Pfarrer eines Morgens Spaten 
und Pickelhaue zur Hand, ging in Begleitung seines einzigen Dieners 
hinaus und begann zu arbeiten, und siehe, das Beispiel des Pfarrers 
wirkte, viele Bauern ergriffen ihr Arbeitszeug, Schaufel, Hacke, Brech¬ 
eisen, und folgten ihm. Jeder ward an einem bestimmten Platz ange¬ 
stellt; für sich selbst nahm Oberlin die beschwerlichste Arbeit in An¬ 
spruch. So ward geschaufelt und gegraben bis gegen Mittag und dann 
nach einer kurzen Pause wieder weiter bis zum Abend. Am folgenden 
Tage war das Arbeiterhäuflein schon gewachsen, und bald stellten sich 
ihrer so viele, daß Oberlin schon neue Werkzeuge aus Straßburg be¬ 
schaffen mußte. Nach einigen Monaten zog sich über den sonst unzu¬ 
gänglichen Felsboden eine bequeme Fahrstraße; ja selbst eine feste 
Brücke ward über die Breusch gebaut, von der sich der Name der Liebes¬ 
brücke auch auf die später an ihrer Stelle neuerbaute übertragen hat. 
Nunmehr konnten die Bauern ihre Landeserzeugnisse in andre Gegenden 
zum Verkauf ausführen, und die Kartoffel des Steintals ward auf dem 
Straßburger Markte besonders gern gekauft.
	        
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