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viel an der Zahl; und allen erregte sie Kummer und Tränen.
90 Lebend noch ward Hektor beweint in seinem Palaste;
denn sie glaubten gewiß, er kehre nie aus der Feldschlacht
wieder heim, der Achaier gewaltigen Händen entrinnend.
Aus Homers Ilias (6. G-esang), übersetzt von Joh. Heinrich Vols.
b) Priamus erbittet von Achill den Leichnam Lektors.
1. Während in Troja alles in tiefstem Schmerze um den Fall des
besten Helden trauerte, feierte Achilleus zu Ehren seines Freundes
Patroklus prachtvolle Leichenspiele. Als der Leichnam des lieben
Gefährten im Grabhügel beigesetzt worden war, band der unversöhn¬
liche Achilleus wieder den toten Hektor an den Wagen und schleifte
ihn zu wiederholten Malen um das Grabmal. Dann ließ er ihn unbe-
erdigt im Staub vor seinem Zelte liegen. Doch geschah dem Leichnam
weiter kein Schimpf; denn Apollo schützte ihn mitleidig vor Verwesung
und Schaden, umgab ihn mit einer Wolke von Himmelsluft und scheuchte
dadurch die gefräßigen Tiere hinweg.
2. Noch mehr taten die Götter für die Ehre des erschlagenen
Helden. Auf Zeus' Befehl stieg Iris zur Erde hinab, trat zu dem
armen alten Priamus und sprach zu ihm: „Fasse Mut, unglücklicher
Greis! Zeus gebietet dir, zu Achilleus in das griechische Lager zu
gehen und ihn um die Leiche deines lieben Sohnes zu bitten. Fürchte
dich nicht vor den Feinden und andrer Gefahr! Hermes, der freund¬
liche Gott, wird dir schützend zur Seite stehen, und Achilleus wird
dir kein Leid antun. Da ließ der Greis sogleich seinen großen Wagen
bespannen und mit den köstlichsten Kleinoden beladen, tröstete sein
weinendes Weib, bestieg selbst seinen gewöhnlichen zweiräderigen
Wagen und befahl seinem Herold, mit dem andern vorauszufahren.
Rüstig wie ein Jüngling trieb der alte Mann seine Rosse an und lenkte
sein Gespann aus der Stadt in die finstre Nacht hinaus, dem Lager
der Feinde zu. Unterwegs gesellte sich ein Jüngling von wunder¬
barer Schönheit zu ihm, sprach ihm tröstliche Worte zu und erbot
sich, ihn ins Lager der Griechen zu begleiten und vor allen Mißhand¬
lungen zu schirmen. Priamus wußte, daß Hermes es sei, den der
Göttervater ihm zu Beistand gesandt hatte, und sein Herz bebte vor
Ehrfurcht und Dankbarkeit. Hermes schwang sich zu ihm auf den
Wagen, nahm die Zügel in die Hand und fuhr ungehindert durch das
offene Lagertor; denn gegen die Wächter schwang er seinen Zauber-
stab, daß sie vom Schlaf betäubt zu Boden sanken. Vor dem großen
Zelte des Achilleus hielt er den Wagen an und sprach zu dem Greis:
„Gehe hier hinein, umfasse die Knie des Helden und bitte um deines
Sohnes Leiche!“ Mit diesen Worten verschwand er im Dunkel der
Nacht.