Full text: Viertes, fünftes und sechstes Schuljahr (Teil 2)

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viel an der Zahl; und allen erregte sie Kummer und Tränen. 
90 Lebend noch ward Hektor beweint in seinem Palaste; 
denn sie glaubten gewiß, er kehre nie aus der Feldschlacht 
wieder heim, der Achaier gewaltigen Händen entrinnend. 
Aus Homers Ilias (6. G-esang), übersetzt von Joh. Heinrich Vols. 
b) Priamus erbittet von Achill den Leichnam Lektors. 
1. Während in Troja alles in tiefstem Schmerze um den Fall des 
besten Helden trauerte, feierte Achilleus zu Ehren seines Freundes 
Patroklus prachtvolle Leichenspiele. Als der Leichnam des lieben 
Gefährten im Grabhügel beigesetzt worden war, band der unversöhn¬ 
liche Achilleus wieder den toten Hektor an den Wagen und schleifte 
ihn zu wiederholten Malen um das Grabmal. Dann ließ er ihn unbe- 
erdigt im Staub vor seinem Zelte liegen. Doch geschah dem Leichnam 
weiter kein Schimpf; denn Apollo schützte ihn mitleidig vor Verwesung 
und Schaden, umgab ihn mit einer Wolke von Himmelsluft und scheuchte 
dadurch die gefräßigen Tiere hinweg. 
2. Noch mehr taten die Götter für die Ehre des erschlagenen 
Helden. Auf Zeus' Befehl stieg Iris zur Erde hinab, trat zu dem 
armen alten Priamus und sprach zu ihm: „Fasse Mut, unglücklicher 
Greis! Zeus gebietet dir, zu Achilleus in das griechische Lager zu 
gehen und ihn um die Leiche deines lieben Sohnes zu bitten. Fürchte 
dich nicht vor den Feinden und andrer Gefahr! Hermes, der freund¬ 
liche Gott, wird dir schützend zur Seite stehen, und Achilleus wird 
dir kein Leid antun. Da ließ der Greis sogleich seinen großen Wagen 
bespannen und mit den köstlichsten Kleinoden beladen, tröstete sein 
weinendes Weib, bestieg selbst seinen gewöhnlichen zweiräderigen 
Wagen und befahl seinem Herold, mit dem andern vorauszufahren. 
Rüstig wie ein Jüngling trieb der alte Mann seine Rosse an und lenkte 
sein Gespann aus der Stadt in die finstre Nacht hinaus, dem Lager 
der Feinde zu. Unterwegs gesellte sich ein Jüngling von wunder¬ 
barer Schönheit zu ihm, sprach ihm tröstliche Worte zu und erbot 
sich, ihn ins Lager der Griechen zu begleiten und vor allen Mißhand¬ 
lungen zu schirmen. Priamus wußte, daß Hermes es sei, den der 
Göttervater ihm zu Beistand gesandt hatte, und sein Herz bebte vor 
Ehrfurcht und Dankbarkeit. Hermes schwang sich zu ihm auf den 
Wagen, nahm die Zügel in die Hand und fuhr ungehindert durch das 
offene Lagertor; denn gegen die Wächter schwang er seinen Zauber- 
stab, daß sie vom Schlaf betäubt zu Boden sanken. Vor dem großen 
Zelte des Achilleus hielt er den Wagen an und sprach zu dem Greis: 
„Gehe hier hinein, umfasse die Knie des Helden und bitte um deines 
Sohnes Leiche!“ Mit diesen Worten verschwand er im Dunkel der 
Nacht.
	        
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