Full text: Für Klasse VI und V (4tes und 5tes Schuljahr) (Teil 2, [Schülerband])

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erzählt und ihm jeden Tag auf der kleinen Kochmaschine einen neuen 
stärkenden Genuß zubereitet; das Trudel saß dabei, wenn sie ihre Schul¬ 
arbeiten machte, ohne sie auch nur im mindesten zu stören, alle Freundinnen 
Melanies kannten und liebten das Trudel; das Trudel gehörte förmlich 
ins Haus; wenn das Stubenmädchen es einmal anfaßte, so geschah es 
mit besonderer, zarter Ehrfurcht, und selbst die Jungen hatten Respekt 
vor dem schönen Verhältnis zwischen Mutter und Kind und achteten das 
Trudel, mit dem die kleine ordentliche Mama nun einmal so „eigen" war. 
Und nun waren Mutter und Kind getrennt! 
Vier Wochen war es nun her, daß die Idee einer Armenbescherung 
in der Schule auftauchte. Es war so viel Not in der Stadt; der Winter, 
der früh begonnen, war so streng und hart, und die armen Leute 
hungerten und froren. Die Schulvorsteherin, die selbst den Religions¬ 
unterricht erteilte, hatte das Mitleid der Kinder mit rührenden Worten 
zu wecken gewußt; sie forderte sie nicht zum Geben auf; aber sie sprach 
so traurig und ernst von dem Leid der Armut und säte so viel Güte 
und Erbarmen in die jungen Herzen, daß die größeren Mädchen von 
selbst zu dem schönen Entschluß kamen, die Erlaubnis zu einer großen, 
von der ganzen Schule unterstützten Christbescherung für arme Kinder von 
ihr zu erbitten. 
Das gute Fräulein sagte gern Ja, und nun gingen die Großen in 
den Frühstückspausen in die Klassen der Kleinen und forderten mit gar- 
warmen, lieben Worten alle Schulgenossinnen ans, so viel für die Armen¬ 
kinder zu arbeiten und zu schenken, als ihnen nur möglich sei. 
„Gewiß habt ihr auch alle ein altes Püppchen zu Haus," sagte die 
Größte aus der ersten Klasse. „Für euch ist jetzt der Weihnachtsmann 
schon auf der Fahrt, und gewiß bringt er euch allen neue, herrliche 
Puppen mit. Wollt ihr nun einmal versuchen, ob ihr euch von euren 
alten trennen könnt? Neue Kleidchen wollen wir den alten Wachskindern 
schon nähen; geniert euch auch nicht, wenn sie em wenig schmutzig und 
zerrauft sein sollten; wir machen sie wieder heil." 
Am andern Morgen brachten die meisten kleinen Mädchen schon 
ein verschwiegenes Bündelchen in ihrem Ränzchen mit. 
Aber Melanie saß drei Nachmittage zu Hause und weinte sich im 
stillen satt, ehe sie sich von ihrem Herzblatt zu trennen vermochte; gerade 
weil sie ein wenig „eigen" war, hatte sie nie eine andere Puppe haben 
mögen als diese, fast als fürchte sie, es könne dann dem blassen Trudel 
die Hälfte Liebe entzogen werden. Nun war ihr dieses bleiche Kindchen 
über alle Maßen ans Herz gewachsen; es schien ihr undenkbar, diesen 
Liebling von sich zu geben, in die Welt zu stoßen, einem fremden, vielleicht 
achtlosen, wilden Kinde zu überlassen, das seine Kränklichkeit nicht kannte, 
das rauh und sorglos mit ihm umging — ach, man weiß es ja, wie 
manche Wildfänge ihre Puppen behandeln! Und doch war die laute 
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