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Sorben oder — wie die Deutschen sie nennen — Wenden. Eines
von den Völkern, die jahrtausendelang bestehen, ohne eine Ge¬
schichte zu haben, die alt werden, ohne je jung gewesen zu sein,
Blutsverwandte der Tschechen und Schicksalsverwandte der süd¬
slawischen Stämme der Slowenen und Kroaten, die auf den magern
Ziegenweiden des felsigen Karstlandes ihre Jahrhunderte verträum¬
ten. Kein hohes Lied, kein Heldenbuch, keine steinerne Tafel mit
unvergänglichen Gesetzen, keine Ruhmeshalle mit Ewigkeitsphysiog¬
nomien großer Menschen und großer Geschehnisse kennzeichnet
den Weg, den diese Nationen schritten. Ihre Spur verlief im
Sand. . . . < .
Rot glüht der Abend über die Heide. In den Wellen der
stillen Spree schwimmen die ersten gelben Weidenblätter wie lange,
gelbe Schifflein. Eine kleine Flotte, mit der der junge Herbst spielt.
Weiden den ganzen Fluß hinab, auch auf den Moorwiesen, die sich
lang im Abendsonnenschein dehnen. Torf schläft in der schlam¬
migen, quabbeligen Erde, saures Gras wächst darüber, und zahl¬
lose Wollblumen wiegen leicht die Perückenköpfe. Hoch und ragend
aber steht der Föhrenwald. Das Auge blickt tief hinein; denn die
Stämme sind schlank, die Föhre duldet kein Unterholz. Wie ein
Heer von Kriegern stehen die Stämme und sind alle rot wie in
blankes Kupfer gepanzert. Und erst die Kronen! Wie Burgen
türmen sie sich in der Luft; das Abendsonnengold vermischt sich
dem dunkeln Grün, und die Burgen haben alle Wände und Dächer
von grünroter Patina bedeckt.
Alt, ehrwürdig, kostbar ist das alles.
Kein Laut. Nur irgendein schwarzgefiederter Burgwart gibt
manchmal den Brüdern ein Signal, die draußen auf der .Wiese noch
nach Beute suchen.
Der erste Stern taucht auf.
Da treibt der Gänsehirt seine schnatternde Herde heim.
Das zweite Sternlein erglimmt.
Ein alter Wende blinzelt hinauf, erkennt sein Zeichen und treibt
zehn Schweinchen, die er aufs Feld geführt hatte, in den Stall.
Das dritte Sternlein schimmert im Osten.
Da singt der Schafhirt zur Heimkehr.
Ein vierter Stern ersteht leuchtend am Himmel.
„Geht ein, Rote, Schwarze, geht ein!" ruft der Kuhhüter und
strebt nach dem Dorfe.
Das fünfte Sternlein strahlt friedlich hernieder.
Da hören die Kinder auf zu spielen, schließen sich den Herden
an und helfen sie heimführen.
Draußen, wo die stille Spree schläfrig zwischen den Weiden
rinnt und wo die alte Landstraße weit hinausführt — Gott weiß,
wohin —, wird es nun ganz still, und wie der Mond aufsteigt,
findet er nichts Lebendes auf den weiten Wiesenplänen als ein paar