Full text: Für das sechste und siebente Schuljahr (Teil 3)

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Früchte wir aßen; da wir nun der Väter Arbeit genossen haben, 
warum sollten wir gegen unsere Nachkommen neidischer sein, 
als jene gegen uns waren? Ich denke, was der Vater nicht ge¬ 
nießt, das erntet der Sohn.“ 
Der freigebige Harun, dem diese Antwort gefiel, schenkte dem 
Alten eine Handvoll Goldstücke. „Wer kann nun sagen,“ fuhr 
der heitere Greis fort, „daß ich heute vergeblich gearbeitet habe, 
da der junge Baum, den ich pflanze, gleich am ersten Tage so 
reiche Früchte trägt? Darum ist es wahr: Wer Gutes tut, wird 
immer reichlich dafür belohnt.“ Palmblätter von J.O.v. Herder 
und A. J. Liebeskind. 
56. Das Ei des Kolumbus. 
Bei einem Feste, das der Kardinal Mendoza dem Admiral Kolumbus 
zu Ehren veranstaltete, hielt er ihm eine große Lobrede wegen der von 
ihm gemachten Entdeckung, die er den größten Sieg nannte, den jemals 
der Geist eines einzigen Mannes erfochten habe. Die anwesenden Herren 
vom Hofe nahmen es übel auf, daß einem Ausländer, noch dazu einem 
Manne, der nicht einmal von vornehmer Herkunft fei, so große Auszeichnung 
erwiesen würde. „Mich dünkt," hub einer der königlichen Kammerherren 
an, „der Weg nach der sogenannten Neuen Welt war nicht so schwer zu 
finden; der Ozean stand überall offen, und kein spanischer Seefahrer würde 
den Weg verfehlt haben." Mit spöttischem Lachen gab die Gesellschaft 
dieser Äußerung ihren Beifall zu erkennen, und mehrere Stimmen riefen: 
„O, das hätte ein jeder von uns auch gekonnt!" 
„Ich bin weit entfernt," entgegnete Kolumbus, „mir etwas als Ruhm 
anzumaßen, was ich nur einer gnädigen Fügung des Himmels zuschreiben 
darf; indessen kommt es doch bei vielen Dingen in der Welt, die uns 
leicht ausführbar erscheinen, oft nur darauf an, daß sie ein anderer uns 
vormacht. — Dürft' ich," sagte Kolumbus zu jenem Kammerherrn ge¬ 
wendet, „Ew. Exzellenz wohl ersuchen, dieses Ei" — er hatte sich von 
einem Diener ein Hühnerei bringen lassen — „so auf die Spitze zu stellen, 
daß es nicht umfällt?" Die Exzellenz versuchte von der einen wie von 
der anderen Seite vergeblich, das Ei zum Stehen zu bringen. Der 
Nachbar bat es sich aus; es gelang ihm ebensowenig. Nun drängten sich 
die andern herzu, ein jeder wollte den Preis gewinnen; allein weder mit 
Eifer noch mit Ruhe war es möglich, das Kunststück auszuführen. „Es 
ist unmöglich," riefen die Herren, ,FHr verlangt Unausführbares!" — 
„Und doch," sagte Kolumbus, „werden sie sogleich sagen: Das kann ein 
jeder von uns auch!" Jetzt nahm er das Ei und setzte es mit einem
	        
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