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Nur noch eine kleine Zahl von Meilen ist die Elbmündung entfernt.
Aber welcher Seemann wäre so vermessen, sie ohne Lotsen anzusegeln
bei solcher Finsternis und nahendem Weststurm!
Fort mit den Segeln und unter Sturmsegeln beigedreht! Noch ist
Raum zum Treiben vorhanden; in einer Stunde vielleicht ist es zu spät.
Der Regen strömt nieder und verengt den Gesichtskreis noch mehr. Der
Leuchtturm von Helgoland sollte längst in Sicht sein; aber vergebens
sucht der Blick in dem tiefen Dunkel; nirgends ist der ersehnte Licht¬
schimmer zu erblicken. Wohin mag der tückische Flutstrom das Schiff
bereits versetzt haben? Wer weiß, ob nicht bald die Brandung auf
drohenden Sandbänken in unmittelbarer Nähe schäumt?
Um das Herz des Kapitäns legt es sich wie Eiseskälte, und auf
den Zügen der Besatzung prägt sich düstere Sorge aus. Der Wind
wächst, die Wogen türmen sich höher und höher, und in grünlichem
Schimmer leuchten ihre überbrechenden Kämme durch die Nacht.
2. Da schnellt der Kapitän plötzlich empor. Was war das? Flimmert
es ihm vor den Augen? Nein, dort ist es wieder! Klar und deutlich
zeichnet es sich ab im Nachtfernrohr, oben ein ruhiges Licht und unten,
nahe der Wasserfläche, eine blauflackernde Flamme.
„Zeigt die Blüse und hißt eine Laterne!" ruft der Kapitän freudig,
und eine schwere Last wälzt sich von seiner Brust. Es ist der Lotsen¬
kutter, der Retter in der Not, auf den er so lange geharrt. Der
Steuermann entzündet die Terpentinfackel; die Laterne wird zur Mast¬
spitze emporgezogen, und angstvoll richten sich aller Blicke windwärts
auf den Punkt, von dem die Signale des Kutters ausstrahlen. Wieder¬
um flackert dessen Blüse. „Hurra! er kommt, er hat uns gesehen!"
jubelt die Mannschaft.
Nach wenigen Minuten hebt sich ein dunkler Schatten auf dem
Wasser ab. Bald nimmt er feste Formen an; es ist der Kutter, der
mit vollen Segeln auf unser Schiff zusteuert. Auf kaum zehn Schritt
Entfernung fliegt er hinter dessen Heck vorbei, um wie auf einem Teller
drehend, in den Wind zu schießen und ganz nahe bei uns liegen zu
bleiben. „Werft eine Leine!" tönt es durch dar Sprachrohr und
„Hol ein!" als die Leine hinübergeworfen ist.
Ein Mann springt vom Kutter in die kochende Flut. Sein Körper
zeichnet einige Augenblicke einen feurigen Streifen in dem dunklen
Wasser. Dann ist er längsseit und wird vorsichtig an Bord gezogen. —
„Guten Tag, Kapitän!" ruft er diesem zu und schüttelt ihm die Hand.
„Brassen Sie voll, wir müssen Ostnordost auf. Es ist Springflut, und
der Strom drängt schwer nach Süden. Machen Sie Segel, ehe der
Wind nördlicher geht und es zu spät wird!" — Der das spricht, ist