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lieh — das fünfte von wenigen Tagen in den Armen der Wöchnerin
ungerechnet — der Fürsorge der Mutter zeitweise entbehren. Wohl ist
hier die Not in ihrer krassesten Gestalt nicht heimisch; denn der Er¬
nährer lebt noch und ist im Augenblick in der nahen Fabrik tätig; doch,
will er den Verdienst nicht missen, so müssen es andre Hände sein,
welche die den seinigen ungewohnte Pflege von Frau und Kindern über¬
nehmen.
Jubelnd empfängt die kleine Schar die ihnen wohlbekannte und
— schon weil sie nie mit leeren Händen kommt —- so gern gesehene
Schwester und murrt nicht, wenn sie, beiseite geschoben, diese zunächst
auf das Bett der Mutter zuschreiten sieht. Erst nachdem hier das
Allernötigste besorgt ist, kommt die kleine Vierzahl an die Reihe,
macht, vom Jüngsten angehoben, mit Wasser und Kamm genaue Bekannt¬
schaft und gewinnt unter dem Einfluß beider sichtlich, im Äußern so¬
wohl wie an innerm Behagen. Lüsternen Auges verfolgen sie nun die
Schritte und weitern Hantierungen der Schwester, die, mit den Örtlich¬
keiten und so ziemlich auch mit den kleinen Vorräten des Hauses genau
bekannt, sich jetzt anschickt, das Frühmahl zu bereiten, und, sobald
es fertig ist, auszuteilen. Nachdem das Älteste das liebe „Komm, Herr
Jesu, usw." gesprochen hat, verzehrt jedes sein Teil, das Kleinste der
vier auf dem Schoße der Schwester, die ihm sein Teil reicht.
Das Gesicht nicht von dem lieblichen Bilde wendend, hat die
Mutter leuchtenden Auges und vor Freude klopfenden Herzens den
Vorgängen um sie her während länger als einer Stunde zugeschaut.
Nachdem auch die kranke Mutter und ihr Kind in jeder Be¬
ziehung versorgt sind, schickt sich die Schwester nach herzlichem
Abschied zum Weggehn an, nicht ohne daß das kleine Viergespann mit
ernsthaftestem Gesicht versprochen hätte, zur Schonung der lieben
Mutter sich recht ruhig zu verhalten.
4. Nur so im Vorbeigehn eilen wir mit Schwester E. die drei
Treppen eines nahen Hauses hinauf, zur Witwe E.; sie ist unheilbar herz¬
krank und daher aus dem Krankenhause zurückgewiesen. Kinderlos, hat
sie — selbst schon sehr elend — vor knapp Jahresfrist ihren Mann
verloren. An seinem Krankenlager lernte sie unsre Schwestern kennen
und lieben. Sie lernte dabei auch ihren Heiland kennen, und mehr
zur Bereitung der Seele als zur Pflege des Leibes, die treue
Nachbarinnen in der Hauptsache vermitteln, erhält sie täglich den
Besuch mindestens einer der Schwestern. Von solchen Stätten strömt
für die Schwestern die oft recht notwendige Stärkung des Geistes
und Herzens aus.
Und unsrer Schwester E. ist die Stärkung zu gönnen, Stärkung
zunächst des Körpers; denn ihr nunmehriger Weg ist weit, er geht
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