Full text: [[Teil 2], Oberstufe, Teil 2] ([Teil 2], Oberstufe, Teil 2)

IV. Aus der weiten Welt. 
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Abgesandten der Provinzen und die Mitglieder der Nationalversammlung den Eid in 
die Hand des Königs schwören sollten, oder ob es geraten sei, den König, gleichsam 
als ersten Beamten des Staates, gleichzeitig mit allen Anwesenden am Altare des 
Vaterlandes schwören zu lassen. Man entschied'sich endlich für das letztere. 
Zum Festplatze hatte man das Marsfeld ausersehen, eine weite Ebene am linken Seine¬ 
ufer. Man hatte geplant, den ganzen Platz in der Mitte zu vertiefen, die ausgegrabene 
Erde nach den Seiten zu schaffen, hier terrassenförmige Stufen und Sitze zu formen 
und so ein Amphitheater zu schaffen, das die ungeheure Menge der Zuschauer auf¬ 
nehmen könnte. Zwölftausend Mann arbeiteten unaufhörlich daran, und trotzdem stand 
zu befürchten, dass das Werk nicht rechtzeitig vollendet werden würde. Da kam eine 
Anzahl hauptstädtischer Patrioten auf den Gedanken, sich freiwillig den Arbeitern 
anzuschließen. Das Beispiel zündete, und im Nu schien sich die ganze Bevölkerung 
von Paris in Arbeiter verwandelt zu haben: Männer aus allen Ständen, Offiziere und 
selbst Mönche nicht ausgenommen, griffen zu Schaufel und Spaten, und sogar vor¬ 
nehme Frauen halfen mit. Die Begeisterung riss alle fort: man marschierte in 
geschlossenen Zügen zum Festplatze, mit buntfarbigen Fahnen und unter Trommelschall, 
und mischte sich unter die arbeitende Menge. Wenn die Nacht kam und das Feierabend¬ 
signal ertönte, sammelten sich alle um ihre Banner und zogen dem heimischen Herde 
wieder zu. ln froher Eintracht konnte man die Arbeit rechtzeitig beendigen. — Schon 
während dieser Vorbereitungen trafen täglich aus den Provinzen Scharen von 
Abgeordneten ein, die von den Parisern mit der grössten Begeisterung und der 
liebenswürdigsten Gastlichkeit aufgenommen wurden. 
Endlich brach der grosse Tag an. Die Abgesandten der Provinzen und der 
Armee versammelten sich mit ihren Fahnen auf dem Bastilleplatz, ordneten sich unter 
ihren Hauptleuten und brachen dann in ungeheurem Zuge nach den Tuilerien auf. 
Hier reihten sich die Mitglieder des Pariser Gemeinderats und der Nationalversammlung 
ein. Eine Schar Knaben, zu einem Bataillon formiert und wie die Väter bewaffnet, 
schritt vor den Volksvertretern her, eine Gruppe von Greisen folgte ihnen. So war 
es unter ähnlichen Umständen auch im alten Sparta Brauch gewesen. 
Unter dem Freudengeschrei und dem Beifallsrufen der Menge bewegte sich der 
Zug dem Seineufer zu. Die Uferdämme, die Fenster, die Dächer, alles wimmelte von 
Zuschauern. Eine Brücke, die man in wenig Tagen über den Fluss gebaut hatte, 
führte auf das linke Ufer hinüber und endigte an der Schmalseite des Festplatzes. 
Der Festzug überschritt sie und war nun an seinem Ziele angelangt; jeder nahm auf dem 
Amphitheater der Längsseite seinen ihm zugewiesenen Sitz ein. Im Hintergründe des 
Festplatzes, dem Eingänge gegenüber, erhob sich eine prächtige Terrasse, die für die 
königliche Familie und die Volksvertreter bestimmt war. Der König und der Präsident 
hatten auf Sesseln von völlig gleicher Arbeit, die mit Goldlilien reich bestreut waren, 
Platz genommen; hinter dem Könige erhob sich ein Balkon, auf dem die Königin mit 
ihren Kindern und dem Hofstaat safs. In einiger Entfernung unterhalb des Königs¬ 
sitzes standen die Minister, und zu beiden Seiten schlossen sich die Mitglieder der 
Nationalversammlung an. Vierhunderttausend Zuschauer füllten die Terrassen an den 
Seiten. Auf dem Festplatze selbst führten sechzigtausend Mann der aus dem ganzen 
Lande zusammengeströmten Nationalgarde ihre soldatischen Übungen aus. In der 
Mitte des Platzes, dem Könige und dem Präsidenten gegenüber, erhob sich ein mächtiger 
Altar, der Altar des Vaterlandes, zu dem fünfundzwanzig Stufen hinaufführten. Dreihundert 
Priester im weifsen Chorhemde und mit dreifarbigen Fahnen umgürtet, standen auf den 
Stufen, um bei der feierlichen Handlung die Messe zu lesen. 
Drei Stunden dauerte der Aufmarsch. Während dieser ganzen Zeit floss der 
Regen in Strömen; der Himmel, dessen strahlende Bläue stets so harmonisch zur 
Freude der Menschen stimmt, versagte diesen Augenblicken sein heiteres Licht. Da
	        
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