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V. Aus Dichtung und Sage.
ihr und Hagen, zu stände. Nun spendet Kriemhild reichlich an Arme und Reiche
von ihren Schätzen: das Geben ist ihr ein Trost in ihrem Leide. Aber wiederum
tritt der grimme Hagen von Tronje ihr feindselig in den Weg; er fürchtet, sie
möchte durch ihre milde Freigebigkeit so viele zu ihrem Dienste gewinnen, daß es
der Herrschaft der Landeskönige selbst Schaden tun werde.
Er raubte den Schatz und versenkte ihn in den Rhein, und dort liegt er
nach der Sage des Volkes zwischen Worms und Lorch bis aus den heutigen Tag.
— Wie früher Siegfrieds Mannen, so erhielten jetzt die Burgunder den Namen
„Nibelungen".
B. Z>er Wibelungen Mot.
1.
Dreizehn Jahre hatte Kriemhild im Witwentum gelebt. Da starb Frau
Helke, des gewaltigen Hunnenkönigs Etzel Gemahlin. Ihm wurde geraten, um
die edle Kriemhild zu werben, und er sandte nach ihr den Markgrafen Rüdiger
mit großem Geleite. Den Königen zu Worms war die Werbung willkommen;
aber Hagen widerriet. Kriemhild selbst widerstrebte: Weinen gezieme ihr und
anderes nicht. Erst als Rüdiger heimlich mit ihr sprach und ihr schwur, mit
allen seinen Mannen jedes Leid, das ihr widerfahren, zu rächen, hoffte sie noch
auf Rache für Siegfrieds Tod und reichte ihre Hand dar. Sie fuhr mit den
Boten hin über Paffau gen Wien; dort wurde die Hochzeit gefeiert.
Aber in dreizehn Jahren ihrer Ehe vergaß sie nicht ihres Leides; allezei
dachte sie, wie sie es räche. Sie bewog ihren Gemahl, ihre Brüder zu einem
Feste auf nächste Sonnenwende herzulocken; den Boten empfahl sie, daß Hagen
nicht zurückbleibe, der allein der Wege kundig fei. König Günther besprach sich
mit seinen Brüdern und Mannen über die Botschaft. Hagen, des Mordes eingedenlt
riet ab von der Reise; als aber die andern ihn der Furcht ziehen, schloß er
zürnend sich an, riet jedoch mit Heereskraft auszufahren.
Mit mehr als tausend Mann zogen nun die Könige durch Ostfranken zur
Donau; zuvorderst ritt Hagen. Über Passau kamen sie auf Rüdigers Mark
und erfuhren zu Pechlarn die Gastfreiheit des Markgrafen und seiner Hausfrau.
Dietelinde, die schöne Tochter des Hauses, ward Giselher verlobt; auch keiner
der andern ging unbeschenkt hinweg; König Günther empfing ein Waffengewand,
Gernot ein Schwert, Hagen einen kostbaren Schild. Den Abschied feiert Volker
der Spielmann mit süßen Tönen und herzbewegendem Liede. Unter Tränen
scheidet des Markgrafen Tochter von ihrem Verlobten, den sie nie wiedersehen
sollte. Rüdiger selbst begleitete die Helden zum Feste. Dietrich von Bern,
der bei den Hunnen lebte, ritt mit seinen Mannen den Gästen entgegen; aber er
warnte sie, da die Königin noch jeden Morgen um Siegfried weine.
An das Hoflager des Hunnenkönigs ward die Nachricht gebracht von der
Ankunft des Burgundenheeres. Da trat Kriemhild an das Fenster, um die
Scharen einziehen zu sehen, und sie freute sich ihrer nahen Rache an Hagen. Die
Hunnen aber drängten sich in Haufen herbei, herbei um den Einen zu sehen, den
grimmen Hagen von Tronje, der Siegfried von Niederland erschlagen, den stärksten
aller Recken, Frau Kriemhildcns ersten Mann. Kriemhild kommt, ihre Brüder
und Verwandten zu begrüßen; doch nur der jüngste, Giselher, bekommt Kuß und