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VII. Bilder aus der Länder- und Völkerkunde.
blutroten Flagge Englands; neben Brasiliens Weltkugel sieht man
Rußlands weiß-blau-rote Querstreifen. Zwischen den Schiffsreihen, be¬
stimmt durch starke Psahlwerke, an welchen die Schisse befestigt werden,
tun sich überall die genau abgemessenen, freien Wasserbahnen auf, belebt
von Boten und Schuten, das sind breite, platte Kähne, die den Verkehr
mit den Kauffahrteischiffen vermitteln und entweder Ladung einnehmen
oder abgeben. Außer dieser unablässigen Regsamkeit, belebt ein Gemisch
hundertfacher Töne das Bild. Kommandorufe der Kapitäne und Steuer¬
leute hallen von Deck zu Deck, die an Tauen und Hängeleitern kletternden
Matrosen schwatzen, singen, johlen in nordischen und südländischen Sprachen
durcheinander. Ankerketten klirren, Winden rasseln. Alles überheult aber
der Dampfpfiff der riesigen Auswandrerschiffe, aus denen jährlich etwa
80000 Menschen von hier nach fernen Ländern ziehen, um dort ein
unsichres Glück zu suchen. Welch bunte Mannigfaltigkeit herrscht auch
in dem Menschengewühle! Deutsche, Dänen, Schweden, Holländer sieht
man zwischen Spaniern, Portugiesen, Franzosen, Italienern, Türken und
Griechen; tiefbraune und gelbe Gesichter weisen nach den Tropenländern
Amerikas und den malaiischen Küsten.
Während in den 1842 vom großen Brande verschonten Stadtteilen
noch viele schmale Gassen, alte und unansehnliche Häuser sich finden,
sind an der Stelle der damals abgebrannten Gebäude längst breite
Straßen mit großartigen Prachtbauten entstanden. Jedem Fremden, der
sich nicht bloß in den Hauptstraßen der Stadt bewegt, fällt es auf, daß
er häufig über Brücken gehen muß, die über lange Wasserstraßen führen,
an welche Häuserreihen unmittelbar angrenzen. Die Alster verzweigt sich
nämlich auf ihren Wegen durch die Stadt in einzelne Fleete oder Kanäle,
die in die Elbe münden. In diesen Mündungsarmen der Alster, welche
Hamburg stellenweise eine große Ähnlichkeit mit der Bauart Venedigs
geben, steigt und fällt das Wasser je nach der Flut und Ebbe. Die schon
bekannten Schuten führen Waren, welche sie von den im Hafen liegenden
See- und Flußschiffen aufgenommen haben, zur Flutzeit zu den Speichern,
welche sich zu beiden Seiten der Fleete erheben, und dienen dem Handel
aufs trefflichste.
Wer das Leben Hamburgs als Handelsstadt kennen lernen will,
muß auch der Börse zur Geschäftszeit einen Besuch abstatten. Die Glocke
der alten St. Katharinenkirche schlägt ein Uhr. Bald strömt es von allen
Seiten der Börse zu; ihre beiden großen Säle füllen sich mit Kaufleuten.
Der Fremde, der bloß ein neugieriger Zuschauer ist, wird auf die Galerie
geführt und kann von hier aus bequem die große Halle übersehen. Man
sieht Tausende von Herren, Käufer und Verkäufer und Makler,
welche die Geschäfte zwischen jenen vermitteln, in eifrigem Gespräche
begriffen. Man hört keinen Ruf, kein schreiendes oder lautes Wort;