IV. Aus der weiten Welt.
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Rockärmel einen Schmutzstreifen hinterlässt. Es wäre geradezu lebens¬
gefährlich, jetzt eine Strasse zu kreuzen, ohne die vorzügliche Dressur
der Londoner Pferde, die keinen Menschen umreifsen, so lange das irgend
zu vermeiden ist. Die Kutscher rufen und warnen unausgesetzt, und die
grosse Menge tappt sich mit den Händen an den Hausmauern hin, staut
sich unmittelbar vor den grossen, erleuchteten Schaufenstern oder sucht
in Omnibussen oder Droschken Zuflucht. Auf dem Verdeck eines Om¬
nibusses sitzend, kommt es einem vor, als schwämme man in einer merk¬
würdigen Wolkenschicht: das Strafsenpflaster ist unter dem Nebel gänz¬
lich versteckt, und man erkennt nur unklar das Verdeck der nächsten
Wagen und die Omnibusführer, die mit grossen Laternen dicht vor den
Pferden hergehen. Dagegen vermag man von dem erhöhten Stand¬
punkte aus die Dächer und die oberen Stockwerke der Häuser ganz
deutlich zu erkennen. Die dichte, in den Strassen lagernde Nebelschicht
ist nämlich nur etwa sechs bis neun Meter hoch.
In jeder andern Stadt ausser in London würde der Verkehr unter
solchen lebensgefährlichen Umständen stocken, da der einzelne Fufsgänger
durch undurchdringliche Finsternis vollständig abgeschlossen ist, so dass
es fast unmöglich ist, einen Weg zu finden, weil die Häuser ganz un¬
sichtbar sind. Die Gewandtheit der Londoner Kutscher und die Dressur
ihrer Pferde überwinden jedoch auch solche Hindernisse. Die beiden,
je eine Strafsenhälfte bedeckenden Wagenströme stehen niemals still,
sondern mäfsigen nur ihre Fahrgeschwindigkeit vom Trab zum Schritt.
Auf den Strafsenkreuzungen und den freien Plätzen wimmelt es von
Fuhrwerken, die aus dem Nebel auftauchen und wieder darin verschwinden,
in entsetzlichem, scheinbar regellosem Wirrwarr. Es liesse sich kaum
voraussagen, welch traurige Folgen es haben müsste, wenn ein undurch¬
dringlicher Rauchnebel die Stadt ununterbrochen mehrere Wochen lang
in seiner Gewalt behielte. Es ist schon eine bedenkliche Thatsache,
dass diese Nebel mit jedem Jahre häufiger, länger anhaltend und schwärzer
zu werden scheinen — was die natürliche Folge davon ist, dass man in
London mit jedem Jahre mehr Steinkohlen verbrennt.
Londons rufsiger Nebel hat jedoch auch gewisse gute Eigenschaften.
Er verschwindet oft auf ebenso schnelle und unerklärliche Weise, wie
er gekommen war, und gewöhnlich erstreckt er sich nicht gleichzeitig
auf alle Stadtteile. Man kann rabenschwarze Nacht oben im nordwest¬
lichen Villenviertel haben und hellen Tag eine halbe Wegstunde südlich
in den altertümlich engen und krummen Geschäftsstrafsen der innern
Stadt. Wenn wir auf wackelndem Omnibus die breite Strasse hinab¬
fahren, bemerken wir vielleicht plötzlich, dass es zu tagen beginnt, und
dass der Wagen buchstäblich aus dem Nebel herausfährt, den er als
schwarze, feste Wolkenbank hinter sich zurücklässt. Nun haben wir uns
nur noch durch einen leichten, gelbgrauen Dunst hindurchzuarbeiten, um