Full text: (Achtes und neuntes Schuljahr) (Teil 4 für Kl. 2 u. 1)

dann auf einmal streckt er seine Arme aus, die Zweige breiten sich, 
und der Emporkömmling wiegt seine grünen Teile über den Köpfen der 
Nachbarn im freien Sonnenlicht. 
Eine junge Eiche oder Tanne sieht im Vergleich zu ihm aus wie 
ein redliches, gediegenes, aber glanzloses Talent. Harmlos breitet sie 
ihre ersten Blättchen oder den Stern der ersten Nadeln aus und must 
sich im Anfang oft kümmerlich mit anderen Kleinen in das Licht des 
Himmels teilen; aber dafür hat sie auch mehr Zeit, sie must nicht 
wie der Spargel in einem kurzen Sommer ihre Früchte zeitigen, sondern 
Jahr um Zahr wachsen ihr die Kräfte. Zahr um Zahr ragt sie höher 
hinauf, und endlich trägt sie siegreich eine ganze Welt von Blättern 
der Sonne entgegen, erhaben über den Wettbewerb derjenigen, die sie 
in der Jugend überwucherten. Wo die Bäume einzeln stehen, da ent¬ 
wickeln sie sich nach allen Richtungen gleichmästig; wo sie in dichten 
Mengen wachsen, tritt Ast- und Laubentwicklung an der Seite zurück 
und das Spitzenwachstum herrscht vor; denn da kommt kein Licht von der 
Seite, der Baum must nach oben drängen, um seinen Blättern den 
Sonnenschein zu sichern. Es hat wohl schon jeder bemerkt, wie im 
geschlossenen Tannenwald die Seitenzweige absterben, während der 
Stamm an der Spitze seine volle Nadelmasse entwickelt; auch das ist 
eine Folge des Triebes zum Licht. Und wenn die Baumbestände einmal 
dicht entwickelt sind, so wird eben ihr Schatten wieder eine Waffe, 
die ihnen fremden Wettbewerb vom Leibe hält; im Dunkel des tiefen 
Forstes gedeiht kein Unterholz zu rechter Kraft; ein recht finsterer 
Fichtenwald duldet überhaupt nichts unter sich. 
Der Mensch, der Vogel, das Eichhörnchen und andere Tiere freuen 
sich am ragenden Stamm und am ragenden Fels; Schutz, Wohnplatz 
oder Nahrung gewährt er ihnen. Aber ebensowohl wie die empfindenden 
Wesen wissen manche Gewächse das Hochstrebende ihren Interessen dienst¬ 
bar zu machen. Das sind die Weinreben, die Bohnen, der Efeu, das 
ganze Volk der schlingenden und kletternden Pflanzen. ,,Nimm uns 
mit," sagen sie, „wir allein sind zu schwach, um uns zur Sonne durch¬ 
zuarbeiten, du kannst uns halten." Und die Bohne schlingt ihren Stengel 
am Stamm in die Höhe, der Efeu saugt sich mit Haftwurzeln fest, die 
Weinrebe sendet ihre Ranken aus, fastt mit ihnen wie mit Fingern die 
Zweige und rollt sie dann in Schraubenform zusammen, um sich heran¬ 
zuziehen. So lassen sie sich von Stärkeren in die Höhe tragen oder 
schleichen an Mauern und Felsen aufwärts, um auch ihrerseits über
	        
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