124
Und das Tier soll dumm sein?
Schnell deckten wir Stroh und Federn wieder über die Eier, denn
wir hörten bereits, wie sie pflichteifrig und mit lautem Geschrei daher¬
geschossen kam.
So vergingen 4 Wochen. 28 Tage lang saß das geduldige Tier
unbeweglich und stumm im finsteren Stalle auf den heißen Eiern und
verließ, Tag und Nacht voll Treue ausharrend, seine Stätte nur dann,
wenn Hunger und Durst es bis zur Unerträglichkeit peinigten.
Da kam unsere Mutter eines Tages mit aufgehobener Schürze, in
der sie etwas Zappeliges trug, aus dem Stalle zu uns: „Seht, ein
Gänschen!" Ein allerliebstes Tier war es, gelb wie ein Kanarienvogel
und rund und weich vom zarten Flaum. Wir streichelten es liebkosend,
aber das Tierchen schien kein Verständnis dafür zu haben. Es ließ ganz
klägliche Töne hören, und das war zu begreifen.
Damit du kleines, piepsendes Ding die Weichheit und Wärme nicht
gar zu sehr entbehrst, setzen wir dich in einen Federtopf und stellen den
auf den warmen Ofen. Du wirst selbst finden, es ist da auch ganz be¬
haglich. Bisweilen werden wir dich herausnehmen. Wenn dich dürstet,
wirst du Wasser zu trinken bekommen; hungert dich, so werden wir dir
Brotkrümchen vorsetzen.
Und sieh, da bringt die gute Frau, unsere Mutter, dir noch Ge¬
schwister! Als die Mutter das letzte Gänschen brachte, folgte ihr die
Alte schreiend auf Schritt und Tritt. Herrisch fordernd, rief sie: „Gack,
gack — Gib, gib!" und hatte die Keckheit, bis in die Küche, ja sogar
bis ins Wohnzimmer mit vorzudringen. Sie schien das Ungehörige und
Gewagte eines solchen Verhaltens gar nicht zu fühlen. Offenbar hatte sie
nur Augen und Ohren für ihre Kleinen. Die hatten die Mutter bereits ge¬
hört. Sie sprangen beim Rufe ihrer Stimnie im Federtopse zappelnd in
die Höhe, um sie zu sehen, und begrüßten die Teure mit erregtem Ge-
piepse aufs freudigste.
Woher kannten sie die Mutter und den Klang ihrer Stimme? Kanin
ins Dasein getreten, waren sie ihr ja entführt worden!
Ein Gänsekorb — das ist ein großer, oben offener Holzküfig —
wurde in die Küche getragen, denn die Tierchen bedürfen ja noch der
Wärme. Die Alte wurde hineingehoben und ein Junges nach dem andern
aus dem Topfe zu ihr gesetzt. Da erlebten wir dann das Wunderbarste.
Jedes Junge wurde mit lautem Geschrei verlangt, war es emporgehoben,
mit zärtlichen Lauten begrüßt, war es neben ihr niedergelassen, mit Hinab¬
neigen des Kopfes und freudig zufriedenem Geschnatter willkommen ge-