32
„Sie hat bessere Zeiten gesehen," flüsterte Hühnchen mir zu, „sie
stammt aus einer reichen Familie, die aber später verarmt ist. In ihrer
Jugend hat sie von silbernen Tellern gespeist. Sie hätte sich fünfmal vor¬
teilhaft verheiraten tonnen — einmal sogar mit einem Grafen —, aber
sie hat nicht gewollt. Sie hat schwere Schicksale erlitten und ist dadurch
etwas muffig und säuerlich geworden; aber wir behandeln sie mit Scho¬
nung — natürlich — wie du dir wohl denken kannst."
Den Garten zeigte mir Hühnchen mit groszein Stolze. Die Wasserkunst
war fertig und erwies sich als ein kleiner, fadendünner Springbrunnen
von fast 1 m Höhe, der sein Gewässer in eine mit bunten Steinchen
ausgelegte Schale ergoß. „Leider ist er ein wenig asthmatisch," 8 sagte
Hühnchen, „denn sein Bassin ist nur klein und muß alle halbe Stunde ge¬
füllt werden; aber es sieht doch großartig und festlich aus."
Am Weinstock waren in diesem Jahre 15 Trauben gewachsen, und
der Nußbaum trug 21 Früchte. „Eigentlich sind es 25 gewesen," sagte
Hühnchen, „allein drei sind vorher abgefallen, und eine war auf unbegreif¬
liche Art verschwunden. Aber noch aur selben Abend, als Lore den Kin¬
dern, die schon im Bette lagen, gute Nacht sagte, fingen beide an unermeß-
lich zu schluchzen und gestanden unter vielen Tränen, wo die vermißte Nuß
geblieben war. Hans, getrieben vorn Dämon der Genußsucht, hatte sie
unterschlagen und dann Frida zur Teilnahme an dieser Untat verführt.
Sie waren mit ihrem Raub auf den Boden gegangen und hatten ihn dort
gemeinschaftlich verzehrt."
Wir gelangten nun an den Birnbaum. „Hier ist eine schmähliche
Täuschung zu verzeichnen," sagte Hühnchen, „der Schuster hat sich als ein
Lügenbold erwiesen, denn anstatt Bergamotten hat dieser Baum ganz
gemeine Kräuterbirnen hervorgebracht. Den Kindern hat es jedoch viel
Vergnügen bereitet, denn sie schätzen diese harinlose Frischt ungemein."
Nach Besichtigung der Menagerie, in der die Säugetiere durch ein
schwarzes Kaninchen, die Vogelwelt durch einen jungen Star ohne Schwanz
und die Amphibien durch einen melancholischen Laubfrosch vertreten
waren, führte mich Hühnchen in einen schattigen Winkel des kleinen Gärt¬
chens, woselbst ein Hügel aus Erde, Unkraut, halbvermodertem Strauch¬
werk, Laub und Küchenabfällen sich nieinen Blicken zeigte.
„Diese Einrichtung bitte ich mit Ehrfurcht zu betrachten," sagte er,
„denn hier schlummert die Zukunft. Dies ist nämlich der Komposthaufen.
Kraft und Milde, Süßigkeit und Würze liegen hier begraben, um in späteren
Jahren glanzvoll zur Auferstehung zu gelangen und als köstliches Gemüse
oder süße Frucht uns zu nähren und zu laben."
4. Die Kinder kamen jetzt, jedes mit einem Körbchen und einer Schere
ausgerüstet, aus dem Hause, und wir begaben uns in die Laube, woselbst
auf dem Tisch eine kleine Kinderkanone aus Messing bereits geladen