Full text: [Teil 3 = 6. u. 7. Schulj] (Teil 3 = 6. u. 7. Schulj)

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„Sie hat bessere Zeiten gesehen," flüsterte Hühnchen mir zu, „sie 
stammt aus einer reichen Familie, die aber später verarmt ist. In ihrer 
Jugend hat sie von silbernen Tellern gespeist. Sie hätte sich fünfmal vor¬ 
teilhaft verheiraten tonnen — einmal sogar mit einem Grafen —, aber 
sie hat nicht gewollt. Sie hat schwere Schicksale erlitten und ist dadurch 
etwas muffig und säuerlich geworden; aber wir behandeln sie mit Scho¬ 
nung — natürlich — wie du dir wohl denken kannst." 
Den Garten zeigte mir Hühnchen mit groszein Stolze. Die Wasserkunst 
war fertig und erwies sich als ein kleiner, fadendünner Springbrunnen 
von fast 1 m Höhe, der sein Gewässer in eine mit bunten Steinchen 
ausgelegte Schale ergoß. „Leider ist er ein wenig asthmatisch," 8 sagte 
Hühnchen, „denn sein Bassin ist nur klein und muß alle halbe Stunde ge¬ 
füllt werden; aber es sieht doch großartig und festlich aus." 
Am Weinstock waren in diesem Jahre 15 Trauben gewachsen, und 
der Nußbaum trug 21 Früchte. „Eigentlich sind es 25 gewesen," sagte 
Hühnchen, „allein drei sind vorher abgefallen, und eine war auf unbegreif¬ 
liche Art verschwunden. Aber noch aur selben Abend, als Lore den Kin¬ 
dern, die schon im Bette lagen, gute Nacht sagte, fingen beide an unermeß- 
lich zu schluchzen und gestanden unter vielen Tränen, wo die vermißte Nuß 
geblieben war. Hans, getrieben vorn Dämon der Genußsucht, hatte sie 
unterschlagen und dann Frida zur Teilnahme an dieser Untat verführt. 
Sie waren mit ihrem Raub auf den Boden gegangen und hatten ihn dort 
gemeinschaftlich verzehrt." 
Wir gelangten nun an den Birnbaum. „Hier ist eine schmähliche 
Täuschung zu verzeichnen," sagte Hühnchen, „der Schuster hat sich als ein 
Lügenbold erwiesen, denn anstatt Bergamotten hat dieser Baum ganz 
gemeine Kräuterbirnen hervorgebracht. Den Kindern hat es jedoch viel 
Vergnügen bereitet, denn sie schätzen diese harinlose Frischt ungemein." 
Nach Besichtigung der Menagerie, in der die Säugetiere durch ein 
schwarzes Kaninchen, die Vogelwelt durch einen jungen Star ohne Schwanz 
und die Amphibien durch einen melancholischen Laubfrosch vertreten 
waren, führte mich Hühnchen in einen schattigen Winkel des kleinen Gärt¬ 
chens, woselbst ein Hügel aus Erde, Unkraut, halbvermodertem Strauch¬ 
werk, Laub und Küchenabfällen sich nieinen Blicken zeigte. 
„Diese Einrichtung bitte ich mit Ehrfurcht zu betrachten," sagte er, 
„denn hier schlummert die Zukunft. Dies ist nämlich der Komposthaufen. 
Kraft und Milde, Süßigkeit und Würze liegen hier begraben, um in späteren 
Jahren glanzvoll zur Auferstehung zu gelangen und als köstliches Gemüse 
oder süße Frucht uns zu nähren und zu laben." 
4. Die Kinder kamen jetzt, jedes mit einem Körbchen und einer Schere 
ausgerüstet, aus dem Hause, und wir begaben uns in die Laube, woselbst 
auf dem Tisch eine kleine Kinderkanone aus Messing bereits geladen
	        
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