Full text: [Teil 4 = Kl. 5 u. 4] (Teil 4 = Kl. 5 u. 4)

Leben verloren, und noch immer fand sich kein Retter. Da erklärte die 
Königin Jokaste, sie wolle Hand und Krone dem geben, der das Rätsel 
lösen würde. 
Auch Ödipus hatte von der Not des Landes gehört. Mutig begab 
er sich an den Berg, wo die Sphinx hauste, hörte das Rätsel, und sein 
Scharfsinn fand sogleich die Lösung. „Das ist der Mensch," sagte er; 
„am Morgen des Lebens kriecht er auf vier Füßeu, mittags steht er 
auf zweien, und am Abend nimmt er als dritten Fuß den Stab zu 
Hilfe." Da stürzte sich die Sphinx überwunden von ihrem Felsen und 
lag zerschmettert am Boden. 
Der Sieger zog in Theben ein und empfing Jokastes Hand und 
den Königsthron. Das Orakel war nun vollständig erfüllt, ohne daß 
Ödipus eine Ahnung davon hatte. Er führte über Theben eine milde 
Herrschaft, bis im zwanzigsten Jahre eine furchtbare Pest ausbrach und 
viele Tausende hinraffte. Da kein Mittel helfen wollte, fragte man das 
Orakel um Rat und erhielt den Spruch, die Pest sei eine Strafe der 
Götter, weil des Laius Tod ungerächt geblieben sei, und werde nicht 
eher aufhören, als bis der Mörder aufgefunden und bestraft sei. Ödipus, 
voll Sorge für das Heil seines Volkes, forschte alsbald eifrigst dein 
Mörder nach, und nicht lange, so kam er dem grauenvollen Geheimnis 
aus die Spur. Er erfuhr seine Herkunft, seine Aussetzung und die 
ganze unheilvolle Verkettung der Umstände, die ihn zum Mörder seines 
Vaters, zum Gatten der eigenen Mutter gemacht hatte. Jokaste erhängte 
sich aus Verzweiflung, Ödipus stach sich in rasendem Schmerz mit 
eigener Hand die Augen aus. 
Er hatte zwei Söhne, Polynices und Eteokles, und zwei Töchter, 
Antigone und Jsmene. Die lieblosen Söhne ließen es geschehen, daß 
ihr unglücklicher Vater aus der Stadt verbannt und ins Elend hinaus¬ 
gestoßen wurde, und so irrte der tiesgebeugte Greis, von allen verlassen, 
nur geführt von der Hand seiner treuen Tochter Antigone, als Bettler 
von Ort zu Ort. Endlich gelangte er nach Kolonus, einem kleinen Orte 
bei Athen, und ließ sich dort zur Rast in einem Haine nieder, der den 
geheimnisvollen Rachegeistern jedes menschlichen Frevels, den Eumeniden, 
heilig war, und den kein menschlicher Fuß betreten durfte. Der athe¬ 
nische König Theseus gewährte ihm in der Nähe des Hains eine sichere 
Zusluchtstätte. Der vielgeprüfte Dulder war indessen durch seine Leiden 
mit den Eumeniden ausgesöhnt, und das Orakel hatte geweissagt, daß 
das Land dereinst unbesieglich sein werde, das die Gebeine des Ödipus 
in seinem Schoße verwahre. Darum schickten seine Söhne und ließen 
den arg geschmähten Vater zur Rückkehr nach Theben einladen; der aber 
sprach einen Fluch über die ruchlosen Söhne und verblieb in dem Lande, 
das ihn gastlich aufgenommen hatte. Obgleich blind, ging er doch allein 
den Weg in die Tiefe des Hains, wo er sein Grab zu finden hoffte.
	        
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