Leben verloren, und noch immer fand sich kein Retter. Da erklärte die
Königin Jokaste, sie wolle Hand und Krone dem geben, der das Rätsel
lösen würde.
Auch Ödipus hatte von der Not des Landes gehört. Mutig begab
er sich an den Berg, wo die Sphinx hauste, hörte das Rätsel, und sein
Scharfsinn fand sogleich die Lösung. „Das ist der Mensch," sagte er;
„am Morgen des Lebens kriecht er auf vier Füßeu, mittags steht er
auf zweien, und am Abend nimmt er als dritten Fuß den Stab zu
Hilfe." Da stürzte sich die Sphinx überwunden von ihrem Felsen und
lag zerschmettert am Boden.
Der Sieger zog in Theben ein und empfing Jokastes Hand und
den Königsthron. Das Orakel war nun vollständig erfüllt, ohne daß
Ödipus eine Ahnung davon hatte. Er führte über Theben eine milde
Herrschaft, bis im zwanzigsten Jahre eine furchtbare Pest ausbrach und
viele Tausende hinraffte. Da kein Mittel helfen wollte, fragte man das
Orakel um Rat und erhielt den Spruch, die Pest sei eine Strafe der
Götter, weil des Laius Tod ungerächt geblieben sei, und werde nicht
eher aufhören, als bis der Mörder aufgefunden und bestraft sei. Ödipus,
voll Sorge für das Heil seines Volkes, forschte alsbald eifrigst dein
Mörder nach, und nicht lange, so kam er dem grauenvollen Geheimnis
aus die Spur. Er erfuhr seine Herkunft, seine Aussetzung und die
ganze unheilvolle Verkettung der Umstände, die ihn zum Mörder seines
Vaters, zum Gatten der eigenen Mutter gemacht hatte. Jokaste erhängte
sich aus Verzweiflung, Ödipus stach sich in rasendem Schmerz mit
eigener Hand die Augen aus.
Er hatte zwei Söhne, Polynices und Eteokles, und zwei Töchter,
Antigone und Jsmene. Die lieblosen Söhne ließen es geschehen, daß
ihr unglücklicher Vater aus der Stadt verbannt und ins Elend hinaus¬
gestoßen wurde, und so irrte der tiesgebeugte Greis, von allen verlassen,
nur geführt von der Hand seiner treuen Tochter Antigone, als Bettler
von Ort zu Ort. Endlich gelangte er nach Kolonus, einem kleinen Orte
bei Athen, und ließ sich dort zur Rast in einem Haine nieder, der den
geheimnisvollen Rachegeistern jedes menschlichen Frevels, den Eumeniden,
heilig war, und den kein menschlicher Fuß betreten durfte. Der athe¬
nische König Theseus gewährte ihm in der Nähe des Hains eine sichere
Zusluchtstätte. Der vielgeprüfte Dulder war indessen durch seine Leiden
mit den Eumeniden ausgesöhnt, und das Orakel hatte geweissagt, daß
das Land dereinst unbesieglich sein werde, das die Gebeine des Ödipus
in seinem Schoße verwahre. Darum schickten seine Söhne und ließen
den arg geschmähten Vater zur Rückkehr nach Theben einladen; der aber
sprach einen Fluch über die ruchlosen Söhne und verblieb in dem Lande,
das ihn gastlich aufgenommen hatte. Obgleich blind, ging er doch allein
den Weg in die Tiefe des Hains, wo er sein Grab zu finden hoffte.