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haben und 'n neues Bein auch, das versteht sich; aber es giebt sehr oft 
Fälle, wo es besser und edler ist, abzuschlagen und hart zu thun. 
Versteh mich nicht unrecht; wir sollen nicht vergessen, wohlzuthun und 
mitzuteilen, das hat uns unser Herr Christus auch gesagt, und was der 
gesagt hat, Andres, da laß ich mich tot drauf schlagen. 
Hast Du wohl eher die Evangelisten mit Bedacht gelesen, Andres? - 
Wie alles, was er sagt und thut, so wohlthätig und sinnreich ist! Klein 
und stille, daß man's kaum glaubt, und zugleich so über alles groß und 
herrlich, daß einem 's Kniebeugen ankommt und nian's nicht begreifen 
kann! Und was meinst du von einem Lande, wo seine herrliche Lehr' in 
eines jedweden Mannes Herzen wäre? Möchtst wohl in dem Lande wohnen? 
Ich habe mir einen hellen schönen Stern am Himmel ausgesucht, wo 
ich mir in meinen Gedanken vorstelle, daß Er da sein Wesen mit seinen 
Jüngern habe. Ich segne den Stern in meinem Herzen und bete ihn an, 
und oft, wenn ichs Nachts unterwegen an den Rabbnni denke und zu dem 
Stern aufseh, überfällt mich ein Herzklopfen und eine so kühne überirdische 
Unruhe, daß ich wirklich manchmal denke, ich sei zu etwas Besserem bestimmt, 
als zum Brieftragen; ich trag' indes immer den Weg hin und find' auch 
bald wieder, daß es mein Berns sei. 
Halt! 's wird schon Tag, und der Morgen guckt durch die Vorhänge 
ins Fenster; Junge, mir ist's so wohl dahier hinter den Vorhängen in 
dieser Frühstnnd'! möchte Dich gleich umarmen. Leb wohl und grüße 
Deinen Herrn Pastor, für den ich Respekt habe, weil er so'n lieber guter 
Herr Pastor ist, und so fromm aussehend, als ob er immer an etwas 
jenseit dieser Welt dächte. 
48. Bon der Freundschaft. 
(Matthias Claudius.) 
Ich habe Dir in der vorigen Lektion die Feindschaft erklärt, und wie 
man dazu gelangen könne, und wann ein ehrlicher Kerl sich nicht scheuen 
müsse. Heute von der Freundschaft. 
Von der spricht nun einer, sie sei überall, der andre, sie sei nirgends; 
und es steht dahin, wer von beiden am ärgsten gelogen hat. 
Wenn Du Paul den Peter rühmen hörst, so wirst Du finden, rühmt 
Peter den Paul wieder, und das heißen sie denn Freunde. Und ist oft 
zwischen ihnen weiter nichts, als daß einer den andern kratzt, damit er ihn 
wieder kratze und sie sich so einander wechselweise zu Narren haben; denn, 
wie Du siehst, ist hier wie in vielen andern Fällen ein jeder von ihnen 
nur sein eigener Freund und nicht des andern. Ich pflege solch Ding
	        
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