178. Kaiser friedrichs erste Husfabrt
Von Hermann flßüllcr-Bohti.
Unser Fritz. Berlin 1889. 8. 402.
wilden Winterstürme des Jahres 1888 waren gewichen, der
Frühling hielt seinen Einzug in die Lande, und alt und jung
atmete erleichtert auf nach den langen, bangen Wintertagen. „Nun
wird auch Kaiser Friedrich wieder gesund werden!" hieß es überall,
und heiße Segenswünsche und Gebete stiegen für ihn zu dem Allmächtigen
empor. Tausende pilgerten tagtäglich von Berlin hinaus nach dem
nahen Charlottenburg und standen dort vor dem Schlosse und harrten
und harrten, bis hinter den Fenstern eine hohe Gestalt erschien, die
mit dem lieben, freundlichen Antlitz so herzlich herniedernickte, als wollte
sie sagen: „Habt nur Geduld mit mir! Ich werde noch recht lange
bei euch bleiben!" Ach, er wußte es besser! Zwar sollte das Volk
seinen geliebten Herrscher noch einigemal von Angesicht zu Angesicht
sehen in seinem lieben Berlin, in dem er so gern weilte. Das war
ein Jubel, als Kaiser Friedrich am Karfreitag, dem 30. März, zum
ersten Male eine größere Ausfahrt machte und unangemeldet, ohne
daß selbst die Polizei davon eine Ahnung hatte, mitten unter seinem
Volk erschien.
Still und friedlich, von der Frühlingssonne bestrahlt, von der Kar¬
freitagsstille durchweht, lagen Wege und Straßen des Tiergartens, wo
sonst eine bunte Menschenmenge sich tummelte. Nur wenige Fuhrwerke
und Fußgänger begegneten auf der Charlottenburger Chaussee den
kaiserlichen Wagen, in deren vorderstem Kaiser Friedrich und seine Ge¬
mahlin saßen, der Kaiser im grauen Feldmantel, mit der Militärmütze
auf dem Haupte, die Kaiserin in lange schwarze Schleier gehüllt. Vor¬
dem Brandenburger Tor nahm der Kaiser die Mütze ab und vertauschte
sie mit dem Helm. Die Wache hatte kaum Zeit, ins Gewehr zu treten,
so unerwartet hatte der Kaiser seine Berliner überrascht. Aber schon
hatte man ihn erkannt, und mit freudigem Jauchzen, mit wahrer Be¬
geisterung tönte es aus der Menschenmenge, die sich hier zusammen¬
gefunden hatte: „Der Kaiser ist da! Kaiser Friedrich!" Nun war kein
Halten mehr. Alles umdrängte den kaiserlichen Wagen, der nur lang¬
sam vorwärts konnte. Kaiser Friedrich war tief gerührt von diesen
Beweisen der Liebe, und die Kaiserin fuhr mehrmals mit dem Taschen¬
tuch über die feuchten Augen, die Tränen der Freude und des Schmerzes
zugleich genetzt hatten. Während das Kaiserpaar sich zur Kaiserin
Augusta begab, hatten zahlreiche Herren und Damen fast die Blumen¬
läden gestürmt und alle die lieblichen Frühlingsboten, Veilchen, Hya¬
zinthen und Maiblumen, gekauft, die sie dem geliebten Kaiser nun in
den Wagen warfen, der nur schrittweise den Weg bis zum Branden-
Lesebuch für Mädchen-Mittelschulen. IV. 16