112
97. Schmetterling und Raupe.
1. Ein Schmetterling im bunten Kleide
behaglich in der Sonne saß
und sah auf einer nahen Weide
ein Räupchen, das zu Mittag aß.
„Hinweg, du häßlicher Geselle!"
so ruft er. „Geh, ich mag dich nicht!
Verlaß den Baum dort auf der Stelle!
Zu widerlich ist dein Gesicht."
2. Ein Bienchen, das vorbeigeflogen,
hört seinem Schimpfen zu und sagt:
„Nur nicht so grob und ungezogen,
weil dir das Räupchen nicht behagt!
Bist in der Tat ein rechtes Närrchen;
denn sag' mir doch, du eitles Ding:
Was warst denn du, mein schönes Herrchen,
bevor du wurdest Schmetterling?" —
Elisabeth Ebeling.
98. Der Luchs und die Schnecke.
Dem Fuchs war einmal recht wohl. Er lief auf einer Wiese
herum und machte allerhand lustige Sprünge. Da sah er im Grase
eine Schnecke kriechen und sing laut an zu lachen und zu spotten:
„Na, du kleines Ding, wie du lausen kannst! Das hätte ich nicht
gedacht. Willst du nicht mit mir um die Wette laufen?"
Die Schnecke streckte ihre vier Hörner aus, sah um sich und
maß den Fuchs mit ihren vier Augen. „Warum nicht?" antwortete
sie, „mit dir kann ich es immer aufnehmen!"
Sie sehten zum Ziel das Ufer des Baches, das einige hundert
Schritte entfernt war. „Ich will dir eine Körperlänge noch vor¬
geben!" sprach die Schnecke, „und doch werde ich dich überholen!"
Das schien dem Fuchs wunderlich und unmöglich; allein er nahm
es an.
Da klebte sich die Schnecke an die äußerste Schwanzspihe des
Fuchses, und dann rief sie: „Ich bin fertig, gib acht, ich will zählen!"
Der Fuchs nahm Stellung, und kaum hatte die Schnecke eins, zwei,
drei gezählt, so flog er wie der Wind fort und war alsbald am
Ziel. Jetzt schwenkte er rasch um, damit er sehe, wo die Schnecke
sei, und ob sie nachkomme; beim Schwenken aber hatte er sie von
seinem Schwanz auf das jenseitige Ufer geschnellt, „kommst du