Full text: Lesebuch für unterfränkische Fortbildungsschulen

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Am Krankenbette zeigt sich die Macht der Frau vielleicht mehr als irgend¬ 
wo. Was die Arznei dem Körper fein soll, das ist die liebevolle Sorgfalt, 
die zärtliche Aufmerksamkeit, die innige Teiliiahme emer warmen Frauenseclc 
dem Gemüte des Kranken. Ihre Anwesenheit schon ist ihm ein Bedürfnis 
und eine Wohltat. Nach dem Münch. Lesebuch für weibl. Fortbildung;- u. Feiertagsschulen. 
60. Ein Werk der Barmherzigkeit. 
Ich traf kürzlich einen steinreichen Mann, der die ganze Welt durchreist 
und vieles gesehen und erlebt hat, wovon unsereiner kaum einmal träumen 
kann. Als ich ihn fragte: „Wann haben Sie sich eigentlich am glücklichsten 
gefühlt in Ihrem Leben?" — da sagte er: „Als ich in München den Typhus 
hatte und im Krankenhause lag." „Das war Ihre schönste Zeit?" fragte 
ich erstaunt. „Ja. Mich pflegte eine barmherzige Schwester und ihre Engels¬ 
milde und Geduld kann ich nie in meinem Leben vergessen. Ich war ihr 
ein Fremder und sie hatte außer mir noch andere Kranke und Tag und Nacht 
schweren Dienst; aber die acht Wochen hindurch sah ich aus ihrem Gesichte 
nur immer die gleiche leuchtende Güte, niemals auch nur den kleinsten Zug 
von Verdrossenheit oder Gereiztheit. Ja, damals war ich im Himmel." 
Also im Krankenhause war seine glücklichste Zeit! Nun stellt euch einmal 
vor, wie dieser reiche Mann von allen Ärmeren beneidet wird. Der muß ja 
im Himmel leben, denken sie alle. Er kann täglich mehrere tausend Mark 
verbrauchen. Und dieser Mann hat Heimweh nach einem Münchener Kranken¬ 
hause, wo er den Typhus gehabt hat und von einer barmherzigen Schwester 
bedient wurde! Warum hat er wohl Heimweh? Weil der Himmel in der 
Liebe liegt und nicht im Geldsacke. Der schönste und rührendste Anblick auf 
der ganzen Welt ist die erbarmende Liebe, die nichts für sich wünscht, die 
nur dienen und heilen will. Alles, was man sich für Geld kaufen kann, ist 
ja nichts gegen ein gütiges Antlitz, das sich auf uns niederbeugt und uns 
Trost zuflüstert. Darum leuchtet eine Krankenschwester mit ihrer immer¬ 
gleichen, stillen Hilfe wie ein Stern in diesem dunkeln Erdental des Streites 
und der Ungeduld und entzündet eine tiefe Sehnsucht nach allem, was gut 
und heilig ist. Glaubt ihr nun, daß nur dieser steinreiche Mann ein Heimweh 
nach der Krankenschwester hat? Nein — noch viele andere, die niemals 
solch einen Engel in Menschengestalt kennen gelernt, und auch viele, die selber 
grob und unbarmherzig sind und denen man kein Heiinweh auf dem Gesichte 
ansieht. Denn im tiefsten Herzensgründe weiß jeder, daß nur die geduldige 
Liebe selig macht und daß es keinen Himmel gibt außer ihr — aber sie wissen 
den Weg nicht zu finden. Sie suchen ein Beispiel, ein Vorbild der Güte, 
einen Schutzengel gegen ihre eigene Roheit und finden ihn nicht. Denn es 
gibt leider noch zu wenige barmherzige Schwestern und Diakonissinnen. 
Und doch brauchen die Gesunden sie vielleicht ebensosehr; denn sie 
haben oft Gebrechen und Wunden in ihrer Seele, die noch viel mehr 
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