fullscreen: Vaterländisches Lesebuch für die Evangelische Volksschule Norddeutschlands

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aufzustellen, wird so zornig, daß er ihn nimmt und am Felsen in tausend 
Stücke zerschlägt. Als er nun den Henkel in der Hand hat und die Scher¬ 
ben auf dem Boden liegen sieht, kommt er auf einmal wieder zu sich, er¬ 
schrickt und spricht zu sich selbst: „O ich Thor, ich dachte, daß der Zorn in 
mich hineinkomme; nun sehe ich, daß er aus mir herauskommt; darum 
will ich kein Einsiedler mehr sein, sondern wieder zu meinen Brüdern gehen, 
daß sie mir guten Rath geben und mir beten helfen, mein eigen Herz zu 
bessern." 
190. Das Todtenhemdchen. 
(Märche n.) 
Es hatte eine Mutter ein Büblein von sieben Jahren, das war so schön und 
lieblich, dasz es niemand ansehen konnte, ohne ihm gut zu sein, und sie hatte 
es auch lieber, als alles auf der Welt. Nun geschah es, dasz es plötzlich krank 
wurde und der liebe Gott es zu sich nahm; darüber konnte sich die Mutter nicht 
trösten und weinte Tag und Nacht. Bald darauf aber, nachdem es begraben 
war, zeigte sich das Kind nachts an den Plätzen, wo es sonst im Leben gesessen 
und gespielt hatte; weinte die Mutter, so weinte es auch, und wenn der Morgen 
kam, war es verschwunden. Als aber die Mutter gar nicht aufhören wollte zu 
weinen, kam es in einer Nacht mit seinem weiszenTodtenhemdchen, in welchem 
es in den Sarg gelegt war, und mit dem Kränzchen auf dem Kopf, setzte sich zu 
ihren Füszen auf das Bett und Sprach : „Ach Mutter! hör’ doch auf zu weinen, 
sonst kann ich in meinem Sarge nicht einschlafen, denn mein Todtenhemdchen 
wird nicht trocken von deinen Thränen, die alle darauf fallen.“ Da erschrak 
die Mutter, als sie das hörte, und weinte nicht mehr. Und in der andern Nacht 
kam das Kindchen wieder, hielt in der Hand ein Lichtchen und sagte: „Siehst 
du, nun ist mein Hemdehen bald trocken, und ich habe Ruhe in meinem Grab.“ 
Da befahl die Mutter dem lieben Gott ihr Leid und ertrug es still und ge¬ 
duldig, und das Kind kam nicht wieder, sondern schlief in seinem unterirdischen 
Bettchen. 
191. Luther beim Tode seines Töchterleins. 
Magdalenchen, das liebe Töchterchen des frommen Mannes Luther, 
lag einstmals sehr krank darnieder. Das betrübte den Vater tief, und 
er betete, da er bei ihr am Bette saß: „Ich habe sie sehr lieb; aber, 
lieber Gott! da es dein Wille ist, daß du sie hinwegnehmen willst, will 
ich sie gern bei dir wissen." Darnach wandte er sich zu seiner Tochter 
und sagte zu ihr: „Leuchen, mein Töchterlein, du bleibest gern hier 
bei deinem Vater und ziehest auch gern zu jenem Vater?" Sie sprach: 
„Ja, Herzensvater, wie Gott will." Da sagte der Vater: „Du liebes 
Töchterlein, der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach" und 
wandte sich herum und sprach: „Ich habe sie ja sehr lieb." Da nun 
Magdalenchen in den letzten Zügen lag und jetzt sterben wollte, siel 
der Vater vor dem Bett auf seine Kniee, weinte bitterlich und betete, 
daß Gott sie erlösen wolle. Indem kommt ihr Bruder, der damals an 
einem entfernten Orte in die Schule ging. Nach diesem hatte sie sehr 
verlangt, also daß der Vater ihn hatte aus einem Wagen holen lassen. 
Als sie ihren lieben Bruder sieht, entschläft sie in des Vaters Armen. 
Vaterländisches Lesebuch. 9
	        
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