Full text: Vaterländisches Lesebuch für die Evangelische Volksschule Norddeutschlands

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der Zöllner sprang zum Dach hinan 
und blickt' in den Tumult hinaus. 
„Barmherziger Himmel, erbarme 
dich! 
Verloren! verloren! Wer rettet 
mich?" 
Die Schollen rollten Schuß auf Schuß 
von beiden Ufern, hier und dort; 
von beiden Ufern riß der Fluß 
die Pfeiler sammt den Bogen fort. 
Der bebende Zöllner mit Weib und 
Kind — 
er heulte noch lauter, als Strom und 
Wind. 
Die Schollen rollten Stoß auf Stoß 
an beiden Enden, hier und dort; 
zerborsten und zertrümmert schoß 
ein Pfeiler nach dem andern fort. 
Bald nahte der Mitte der Umsturz sich. 
„Barmherziger Himmel, erbarme 
dich!" 
Hoch auf dem fernen Ufer stand 
ein Schwarm von Gaffern, groß und 
klein, 
und jeder schrie und rang die Hand; 
doch mochte niemand Retter sein. 
Der bebende Zöllner mit Weib und 
Kind 
durchheulte nach Rettung den Strom 
und Wind. 
Wann klingst du, Lied vom braven Mann, 
wie Orgelton und Glockenklang? 
Wohlan, so nenn' ihn, nenn' ihn dann! 
Wann nennst du ihn, o braver Sang? 
Bald nahet der Mitte der Umsturz 
sich: 
O braver Mann, braver Mann, zeige 
dich! 
Nasch galopiert ein Graf hervor, 
auf hohem Roß, ein edler Graf. 
Was hielt des Grafen Hand empor? 
Ein Beutel war es, voll und straff. 
„Zweihundert Pistolen sind zugesagt 
dem, welcher die Rettung der Armen 
wagt!" 
Wer ist der Brave? Jst's der Graf? 
Sag' an, mein braver Sang, sag' an! 
Der Graf, beim höchsten Gott, war brav; 
doch weiß ich einen bravern Mann. 
Obraver Mann, braver Mann, zeige 
dich! 
Schon naht das Verderben sich fürch¬ 
terlich. 
Und immer höher schwoll die Flut, 
und immer lauter schnob der Wind, 
und immer tiefer sank der Muth. — 
„O Retter, Retter, komm geschwind!" 
Dtets Pfeiler bei Pfeiler zerborst und 
brach; 
laut krachten und stürzten die Bogen 
nach. 
„Halloh! halloh! frisch auf! gewagt!" 
Hoch hielt der Graf den Preis empor. 
Ein jeder hört's, doch jeder zagt; 
aus Tausenden tritt keiner vor. 
Vergebens durchheulte mit Weib und 
Kind 
der Zöllner nach Rettung den Strom 
und Wind. 
Sich', schlecht und recht ein Bauersmann 
am Wanderstabe schritt daher, 
mit grobem Kittel angethan, 
an Wuchs und Antlitz hoch und hehr. 
Er hörte den Grafen, vernahm sein 
Wort 
und schaute das nahe Verderben dort. 
Und kühn in Gottes Namen sprang 
er in den nächsten Fischerkahn. 
Trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang 
kam der Erretter glücklich an. 
Doch wehe! der Nachen war allzu¬ 
klein, 
der Retter von allen zugleich zu sein. 
Und dreimal zwang er seinen Kahn 
trotz Wirbel, Sturm und Wogendrang, 
und dreimal kam er glücklich an, 
bis ihm die Rettung ganz gelang. 
Kaum waren die letzten im sichern 
Port, 
so rollte das letzte Getrümmer fort. 
„Hier", rief der Graf, „mein wackrer 
Freund, 
hier ist der Preis! Komm her, nimm hin!" 
Sag' an, war das nicht brav gemeint? 
Bei Gott, der Graf trug hohen Sinn; 
doch höher und himmlischer wahrlich 
schlug 
das Herz, das der Bauer im Kittel 
trug. 
„Mein Leben ist für Geld nicht feil; 
arm bin ich zwar, doch hab' ich satt. 
Dem Zöllner werd' Euer Geld zu Theil, 
der Hab' und Gut verloren hat!" 
So rief er mit herzlichem Biederton 
und wandte den Rücken und ging 
davon.
	        
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