Full text: Vaterländisches Lesebuch für die Evangelische Volksschule Norddeutschlands

193 
„Ich weiß, was ihr fordert, und bin 
bereit: 
ja, werft mich in's schsiumende Meer! 
doch wiffet, das rettende Ziel ist nicht 
weit! 
Gott schütze dich, irrendes Heer!" 
Dumpf klirrten die Schwerter, ein 
wüstes Geschrei . 
erfüllte mit Grausen die 2uft;_ 
der Edle bereitet sich still und frei 
zum Weg in die flutende Gruft. 
Zerrissen war jedes geheiligte Band; 
schon sah sich zum schwindelnden Rand 
der treffliche Führer gerissen, und — 
Land! 
Land! rief es, und donnert' es, Land! 
Ein glänzender Streifen, mit Purpur 
gemalt, 
erschien dem beflügelten Blick; 
vom Golde der steigenden Sonne be¬ 
strahlt, 
erhob sich das winkende Glück, 
was kaum noch geahnet derzagende Sinn, 
was muthvoll der Große gedacht! — 
Sie stürzten zu Füßen des Herrlichen hin 
und priesen die göttliche Macht. 
37. Die Bürgschaft. 
Zn Dionys, dem Tyrannen, schlich 
Möros, den Dolch im Gewände; 
ihn schlugen die Häscher in Bande. 
„Was wolltestdn mit dem Dolche, sprich!" 
entgegnet ihm finster der Wütherich. — 
„Die Stadt vom Tyrannen befreien!" — 
„Das sollst du am Kreuze bereuen." — 
„Ich bin", spricht jener, „zu sterben 
bereit 
und bitte nicht um mein Leben; 
doch willst du Gnade mir geben — 
ich flehe dich um drei Tage Zeit, 
bis ich die Schwester dem Gatten ge¬ 
freit — 
ich lasse den Freund dir als Bürgen, 
ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen." 
Da lächelt der König mit arger List 
und spricht nach kurzem Bedenken: 
-.Drei Tage will ich dir schenken; 
doch wiffe! wenn sie verstrichen, die 
Frist. 
eh' du zurück mir gegeben bist, 
so muß er statt deiner erblassen, 
doch dir ist die Strafe erlassen." 
Vaterländisches Lesebuch. 
Und er kommt zum Freunde: „Der 
König gebeut, 
daß ich am Kreuz mit dem Leben 
bezahle das frevelnde Streben; 
doch will er mir gönnen drei Tage 
Zeit, 
bis ich die Schwester dem Gatten gefreit: 
so bleib' du dem König zum Pfande, 
bis ich komme, zu lösen die Bande." 
Und schweigend umarmt ihn der treue 
Freund 
und liefert sich aus dem Tyrannen; 
der andere ziehet von dannen. 
Und ehe das dritte Morgenroth scheint, 
hat er schnell mit dem Gatten die 
Schwester vereint, 
eilt heim mit sorgender Seele, 
damit er die Frist nicht verfehle. 
Da gießt unendlicher Regen herab, 
von den Bergen stürzen die Quellen, 
und die Bäche, die Ströme schwellen, 
und er kommtan's Ufermitwanderndem 
Stab — 
da reißet die Brücke der Strudel hinab, 
und donnernd sprengen die Wogen 
des Gewölbes krachenden Bogen. 
Und trostlos irrt er an Ufers Rand: 
wie weit er auch spähet und blicket 
und die Stimme, die rufende, schicket, 
da stößet kein Nachen vom sichern Strand, 
der ihn setze an das gewünschte Land, 
kein Schiffer lenket die Fähre, 
und der wilde Sttom wird zum Meere. 
Da sinkt er an'S Ufer und weint und 
fleht, 
die Hände zum Zeus erhoben: 
„O, hemme des Stromes Toben! 
Es eilen die Stunden, im Mittag steht 
die Sonne, und wenn sie untergeht 
und ich kann die Stadt nicht erreichen, 
so muß der Freund mir erbleichen." 
Doch wachsend erneut sich des Stromes 
Wuth, 
und Welle auf Welle zerrinnet, 
und Stunde an Stunde entrinnet; 
da treibet die Angst ihn, da faßt er sich 
Muth 
und wirst sich hinein in die brausende 
Flut 
und theilt mit gewaltigen Armen 
den Strom, und ein Gott hat Erbarmen. 
13
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.