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wurden. Frisch und grün streckte er seine Zweige auS, und schon da¬
mals ruhete der müde'Wanderer unter ihm. Endlich wurde der Baum
gefällt, sein Stamm zerschnitten und in friedlicher Werkstätte verarbei¬
tet. Eine Wiege vielleicht und ein Sarg zugleich entstand auö sei¬
nem Holz. Wiege und Sarg — beide also wuchsen einst kräftig und
voll als Waldbaum oder als Obstbaum, auf dessen Zweigen die Vö¬
gel sangen.
Beide wurden vom Frühling einst belaubt und vom Herbst ent¬
blättert. Beide wurden gefällt durch Art und Sturm.
Und in beiden schläft der Mensch. In Beiden gibt's Ruhe und
Frieden. Wie harmlos liegt der Säugling in der Wiege! Keine
Noth ficht ihn an. Rein und ungetrübt ist der Himmel seines Lebens.
Verhält sich's anders mit dem Sarge? Auch in ihm schläft der
Mensch, und auch hier trifft den Menschen kein Ungemach, keine
Erdennoth. Zwar ein andrer Schlaf ist's, als der Schlaf in der
Wiege — denn jetzt ist er eisern, traumlos und kalt — aber sicher
und geborgen doch hält er den Schläfer.
In beide steigen wir selbst nicht. Man legt uns hinein. Denn
hülflos und schwach noch waren wir, als wir auf dem Schooße der
Mutter saßen. Von ihr erlangten wir, was wir brauchten, auch die
Ruhe. Die Mutter hob uns herab vom Arm und Schooß, sic legte
uns liebend und sanft in die Wiege. — Starr und bleich und ge¬
brochen an Kraft und Bewegung sind wir im Tode. Man legt uns
hinein in den Sarg, denn wir selbst können uns nicht betten.
Wiege und Sarg — an beiden wird geweint. Wer kennt nicht
die Thränen der Freude, die im Vater- oder Mutter-Auge glänzen,
wenn es auf die Wiege des KindeS blickt? Wer kennt nicht die
Thränen des Schmerzes, welche in dem Auge des Kindes glänzen,
wenn es am Sarge der Eltern steht? Eltern legen ihre Kinder in
die Wiege, und in der Regel legen die Kinder die Eltern in den
Sarg. Thränen gibt's hier wieder.
Wiege und Sarg — an beiden wird gehofft. — Ja Hoffnung
regt sich im Herzen, süße Hoffnung leuchtet uns entgegen, wenn wir
an der Wiege unsrer Lieblinge stehen. Mit ihnen hoffen wir durch's
Leben zu gehen. Durch sie denken wir ein reines Band zu knüpfen
für die Erde und Glück und Freude und Wonne zu finden. — Im
Tode ist dieses Band zerrissen — aber wir hoffen mit Zuversicht, es
werde in der Höhe sich wieder dauerhaft knüpfen. Und diese Hoff¬
nung ist im Sarge unser Trost, unser Anker, unser Rettungsstcrn.
Wiege und Sarg — an beiden wird gebetet. Fromme Wünsche,
Gedanken und Gefühle steigen aus dem Herzen der Eltern zum Him¬
mels auf, wenn sie an dem harmlosen Lager des Kindes stehen. Um
Glück und Segen für den Liebling beten sie zu Gott. Auch an dem
Sarge beten wir. Wir beten für den Todten. Wir beten für ihn um