Full text: Deutsche Sagen und Geschichten aus dem Mittelalter (Teil 2)

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Kriemhildens Thüre niederlegen. Hier fand ihn die Un¬ 
selige, als sie am ändern Morgen sich anschickte, zur 
Frühmesse zu gehen. Jammernd warf sie sich über den 
geliebten Toten hin, nahm sein schönes Haupt in den 
Arm und küfste die bleichen Lippen. „Wehe, wehe!“ 
rief sie klagend, „du bist ermordet! Ermordet bist du! 
dein Schild ist nicht zerhauen. Brunhild hat das ge¬ 
raten, und Hagen hat es gethan.“ Von dem Jammer¬ 
geschrei der Königin erwacht das ganze Haus; laute 
Klage erschallt. Gunther und seine Brüder kommen 
herbei; selbst Hagen wagt es, sich zu nahen. Wie er 
aber an den Leichnam trat, da öffneten sich die Wunden, 
und von neuem flofs das rote Blut auf den Estrich hinab. 
Da brach Kriemhild in Thränen zusammen, aber Hagen 
stand in grimmem Trotze ruhig da. Der greise Vater 
Siegfrieds kam mit seinen Mannen und rief händeringend 
Wehe über das ungastliche Haus und das verräterische 
Fest. Mit Mühe nur konnte Kriemhild dem Gefolge 
Einhalt thun, das mit gezückten Schwertern sofort Rache 
nehmen wollte. Drei Tage und drei Nächte wurde die 
Leiche im Münster ausgestellt. Kriemhild aber lag die 
ganze Zeit über ohne Speise und Trank neben der 
Bahre, aufgelöst in Gram und Schmerz. Als Siegfried 
endlich bestattet war, rüstete sich König Siegmund 
zur traurigen Heimfahrt; Kriemhild aber konnte sich 
nicht entschliefsen, die Stätte zu verlassen, wo ihr Gatte 
begraben lag. Still und zurückgezogen lebte sie ihrem 
Schmerze, geduldig des Tages harrend, der ihren Rache¬ 
durst stillen sollte. Inzwischen spendete sie reichlich 
von dem Nibelungenhort, den sie durch ihre Brüder 
Gernot und Gieselher nach Worms schaffen liefs, und ge¬ 
wann sich dadurch viele Freunde. Darum drang Hagen
	        
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