Full text: [Teil 1 = Kl. 8] (Teil 1 = Kl. 8)

106. Der Cdettlauf jwiícbeti dem I)aTen und dem Igel. 
Von Eudwig BecbTtein. 
Märchenbuch. 27. Auflage. Leipzig 1872. 8. 147. 
1. 
Í s war einmal an einem-Sonntagmorgen in der Herbstzeit. Die Sonne 
war goldig am Himmel aufgegangen, der Morgenwind ging frisch 
über die Stoppeln, die Lerchen sangen in der Luft, die Bienen summten, 
und die Leute gingen in ihren Sonntagskleidern nach der Kirche, kurz alles 
war vergnügt und der Igel auch. 
Der aber stand vor seiner Tür, hatte die Arme übereinander ge¬ 
schlagen, guckte dabei in den Morgenwind hinaus, trällerte ein Liedchen 
vor sich hin, so gut und so schlecht, als es nun eben am lieben Sonntag¬ 
morgen ein Igel zu singen vermag. Indem er nun noch so halbleise 
vor sich hinsang, siel ihm auf einmal ein, er könne wohl, während seine 
Frau die Kinder wüsche und anzöge, ein bißchen im Felde spazieren und 
dabei sich umsehen, wie seine Steckrüben stünden. Die Steckrüben waren 
das Nächste bei seinem Hause, und er pflegte mit seiner Familie davon 
zu essen; deshalb sah er sie denn auch als die seinigen an. Der Igel 
machte die Haustür hinter sich zu und schlug den Weg nach dem Felde 
ein. Er war noch nicht sehr weit vom Hause und wollte just um den 
Schlehenbusch, der da vor dem Felde steht, hinaufschlendern, als ihm der 
Hase begegnete, der in ähnlichen Geschäften ausgegangen war, nämlich um 
seinen Kohl zu besehen. Als der Igel des Hasen ansichtig wurde, bot er 
ihm einen freundlichen guten Morgen. Der Hase aber, der nach seiner 
Weise ein gar vornehmer Herr war und grausam hochfahrig dazu, ant- 
wortete nichts auf des Igels Gruß, sondern sagte zu ihm, wobei er eine 
gewaltig hochmütige Miene annahm: „Wie kommt es denn, daß du schon 
bei so frühem Morgen auf dem Felde herumläufst?" „Ich gehe spazieren," 
sagte der Igel. „Spazieren?" lachte der Hase, „mich dünkt, du könntest 
deine Beine auch wohl zu besseren Dingen gebrauchen." Diese Antwort 
verdroß den Igel über alle Maßen; denn alles kann er vertragen, aber 
auf seine Beine läßt er nichts kommen, eben weil sie von Natur schief 
sind. „Du bildest dir wohl ein," sagte nun der Igel, „daß du mit 
deinen Beinen mehr ausrichten kannst?" „Das denk' ich," sagte der Hase. 
„Nun, es käme auf einen Versuch an," meinte der Igel; „ich behaupte, 
wenn wir Wettlaufen, ich laufe dir vorbei." „Das ist zum Lachen, du 
mit deinen schiefen Beinen!" sagte der Hase; „aber meinetwegen mag es 
sein, wenn du so übergroße Lust hast. Was gilt die Wette?" „Ein 
Goldstück und eine Flasche Branntwein," sagte der Igel. „Angenommen,"
	        
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