fullscreen: Vierunddreißig Lebensbilder aus der deutschen Litteratur

Anhang II. 
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2. Fabel und Parabel. 
(Vgl. S. 68 und S. 93). 
Aus der Tiersage hat sich auch die Fabel entwickelt, auch sie ist eine Tiergeschichte; denn 
in ihr werden Vorgänge und Thatsachen erzählt, in denen Tiere handelnd auftreten; an ihrer 
Stelle erscheinen zuweilen leblose Naturdinge. Zweck der Erzählung ist aber eine Lehre, welche 
durch das erzählte Ereignis verdeutlicht und bewiesen werden soll; die erzählte Thatsache wird so 
zum bestimmten Beispiel der allgemeinen Lehre; daher auch die alte deutsche Bezeichnung für 
Fabel dwpel, d. i. neben der Lehre hergehende Erzählung. Die Tiere sind gleichsam verkappte 
Menschen, sie stellen die Denk- und Handlungsweise der Menschen im alltäglichen Leben dar, so 
ist also die Fabel ein Spiegelbild von dem Treiben der Menschen, wie es in Wirklichkeit ist, 
nicht, wie es sein soll. Auf diese Weise wird die Fabel ein warnender, mahnender, drohender 
Lehrer und Freund des Menschen, der ihin die an sich bittere Wahrheit in schonender, mittelbarer 
Weise sagt. (S. 68.) — Die Lehre ist oft in der Fabel direkt, meist in Form eines Sprich¬ 
wortes, ausgesprochen, oder — was besser ist — sie muß vom Hörer durch Nachdenken selbst 
gefunden werden. 
Berühmte deutsche Fabeldichter sind: Der Stricker im 13. Jahrhundert, (sein Buch führt 
den Titel „Die Welt"), Ulrich Boner aus dem 14. Jahrhundert, Luther (S. 93), Hans Sachs 
(S. 110), Geliert (S. 167 pp.), Lessing (S. 186), Hagedorn (Löwe und Mücke, Hühnchen und 
Diamant), Lichtwer (Hausherr und Katzen, Laster und Strafe, Schnecke und Grille), Pfeffel (Ochs 
und Esel, Die Stufenleiter, Der Hecht), Hey mit seinen allbekannten Fabeldichtungen für Kinder. 
Die Parabel ist der Fabel insofern verwandt, als sie eine Lebenswahrheit durch eine 
Lehre veranschaulicht; das liegt schon im Namen; denn Parabel heißt so viel als Vergleichung, 
Gleichnis. 
Im Gegensatz zur Fabel nimmt sie ihre Stoffe aus den alltäglichen Vorgängen des mensch¬ 
lichen Lebens, zuweilen auch aus der Nakur, und die zu veranschaulichende Lebenswahrheit ist 
eine sittlich-religiöse. Durch das Gleichnis soll dem Menschen nicht die volle Wahrheit gegeben 
werden — das ist bei himmlischen Dingen unmöglich — sondern ihm soll nur eine Ahnung des 
Göttlichen aufgehen. 
Unerreichte Muster der Parabel sind die Gleichnisse Jesu Christi. 
Deutsche Parabeldichter: Scriver im 17. Jahrhundert („Gottholds 400 zufällige Andachten"), 
Herder, Krummacher, Rückert (Salomon und der Säemann, Parabel — Der Mann mit dem 
Kamel), Chamisso (Die Kreuzschau). 
Wenn der zur Veranschaulichung einer höheren Lebenswahrheit dienende Stoff aus dem 
Mythus entlehnt wird, so entsteht die Paramythie, welche durch Herder in die deutsche Litte¬ 
ratur eingeführt ist. (s. S. 194, Einleit., letzter Absatz.) 
3. Die poetische Beschreibung. 
Diese Dichtungsgattung ist ein Naturgemälde, in welchem jedoch nicht die einzelnen äußeren 
Merkmale von Naturkörpern aufgezählt, sondern in welchem auf einander folgende Erscheinungen 
in lebendiger Bewegung dargestellt werden: Die Bilder entstehen vor unseren Augen, und der Dichter 
weiß sie in innigste Beziehung zum Seelenleben des Menschen (zunächst seiner selbst) zu setzen. 
Hierher gehören viele aus Hebels allemannischen Gedichten, die Heidebilder von Annette 
von Droste-Hülshof, die Wüstenbilder von Freiligrath. 
4. Das Rätsel. 
Das Rätsel ist eine Beschreibung; in demselben werden Merkmale eines Gegenstandes auf¬ 
geführt, aus denen dieser erraten werden soll; dabei müssen so viele und so bezeichnende Eigen¬ 
schaften aufgezählt werden, daß das Erraten überhaupt möglich wird, und doch auch wieder nicht 
so viele, daß letzteres zu leicht wird. 
Das poetische Rätsel muß nicht nur ein poetisches Gewand haben, sondern es muß auch, 
abgesehen davon, daß es das Nachdenken beschäftigt, das Gemüt anregen und befriedigen. 
Man unterscheidet folgende Hauptarten des Rätsels: 
a. Das Worträtsel, bei welchem aus den Merkmalen gleich das ganze Wort zu er¬ 
raten ist. (Schiller S. 269). 
b. Das Silbenrätsel (Charade), bei welchem das Wort in einzelne Silben zerlegt 
>vird, von denen eine jede ein Rätsel für sich bildet. (Hebel 306.) 
e. Das Buchstabenrätsel (Logogryph), bei welchem durch Streichung oder Hinzu¬ 
fügung von Buchstaben am Anfang oder Ende der Wörter, oder auch durch Ver¬ 
tauschung von Lauten, neue Rätsel entstehen. Beispiel: 
„Das Ganze zeigt des Lebens Winter an. 
Den Kopf hinweggethan: 
im Sommer nur es reifen kann; 
den Hals auch fort: sodann 
der Winter nur dir's bringen kann." 
Castelli. 
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