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Dann bestieg Nausikaa den Wagen, ergriff Peitsche und Zügel und fuhr
zur Stadt hinaus. Ihr folgten zu Fuß die andern Jungfrauen.
Bald kamen sie auf dem Waschplatze an. Er lag an einem klaren
Strome, aus welchem das Wasser durch Rinnen in steinerne Behälter
floß, die in die Erde gegraben waren. In diese Gruben warfen sie die Ge¬
wänder, sprangen dann selbst hinein und walkten das Zeug mit den Füßen.
Darauf breiteteil sie alles ans einer reinen, kiesigen Flüche am Ufer aus.
Während nun das Zeug zum Trocknen dalag, badeten sich die Mäd-
chen, salbten sich und öffneten Kasten und Schlauch, um ein Mahl im
Freien einzunehmen. Fröhlich scherzend sprangen sie dann auf, Nausikaa
stimmte einen Gesang an, die Mädchen tanzten dazu und ergötzten sich
mit Ballspiel. Endlich war die Zeit der Heimkehr gekommen; sie nahmen
die Gewänder vom Boden auf, legten sie sauber zusammen und trugen
sie wieder in den Wagen. Aber ehe Nausikaa aufstieg, machte sich das
schalkhafte Mädchen noch den Spaß, nach einer andern mit dem Balle
zu werfen. Der Ball traf nicht und flog weit weg in den Strom hinein.
Da lachten und kreischten die mutwilligen Mädchen auf und klatschten
jubelnd in die Hände. Hub siehe, so hatte es Athene veranstaltet, das
laute Lachen weckte den schlafenden Odysseus in seinem Gebüsche. Er
richtete sich horchend auf. „Halt," dachte er, „das sind Menschen. Aber
wehe mir, was für Menschen werden es sein? Wilde Räuber vielleicht,
die von Göttern und Gastfreundschaft nichts wissen. Aber es klang ja
wie Mädchenstimmen, und sie lachten so herzlich. Ich muß nur näher
gehen und sehen, was es für Menschen sind."
Er wand sich ans dem Dickicht heraus, schüttelte das Laub von sich,
und weil er ganz unbekleidet war, brach er sich mit starker Faust einen
buschigen Zweig ab, um sich damit zu bedecken. Sv trat er wie ein
wilder Löwe hervor. Die Mädchen erschraken, schrieen laut aus und
liefen davon. Nur Nausikaa war beherzter, und Athene hauchte ihr Mut
in die Brust. Sie blieb ruhig stehen, aber Odysseus wagte es nicht,
nach Sitte der Flehenden ihre Kniee zu umfassen, sondern richtete ans
ehrerbietiger Ferne seine Bitte an sie.
„Flehend nahe ich mich dir," sprach er, „Göttin oder Jungfrau, denn
ich weiß nicht, wer du bist. Bist du eine Göttin, so mußt du Artemis
sein, das sagt mir deine schlanke Gestalt und deine herrliche Bildung.
Bist du aber eine sterbliche Jungfrau, o so preise ich deine Eltern und
deine Brüder glücklich; ihr Herz muß höher schlagen, wenn ]tc dich er¬
blicken. Aber seliger als alle ist doch der Mann, der dich dereinst als
Braut in sein Haus führt. Siehe, ich habe vielen Jammer erfahren.