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Wand, der Koch in der Küche hielt noch die Hand, als wollte er den
Jungen anpacken, und die Magd saß vor dem schwarzen Huhne, das
sollte gerupft werden. Da ging er weiter und sah im Saale den ganzen
Hofstaat liegen und schlafen, und oben bei dem Throne lag der König
5 und die Königin. Da ging er noch weiter, und alles war so still, daß
einer seinen Atem hören konnte, und endlich kam er zu dem Turme und
öffnete die Tür zu der kleinen Stube, in der Dornröschen schlief. Da
lag es und war so schön, daß er die Augen nicht abwenden konnte, und
er bückte sich und gab ihm einen Kuß.' Wie er es mit dem Kusse berührt
10 hatte, schlug Dornröschen die Augen auf, erwachte und blickte ihn ganz
freundlich an. Da gingen sie zusammen herab, und der König erwachte
und die Königin und der ganze Hofstaat und sahen einander mit großen
Augen an. Und die Pferde im Hofe standen auf und rüttelten sich, die
Jagdhunde sprangen und wedelten, die Tauben auf dem Dache zogen das
15 Köpfchen unterm Flügel hervor, sahen umher und flogen ins Feld, die
Fliegen an den Wänden krochen weiter, das Feuer in der Küche erhob
sich, flackerte und kochte das Essen, der Braten sing wieder an zu brutzeln,
und der Koch gab dem Jungen eine Ohrfeige, daß er schrie, und die
Magd rupfte das Huhn fertig. Und da wurde die Hochzeit des Königs^
20 sohnes mit dem Dornröschen in aller Pracht gefeiert, und sie lebten
vergnügt bis an ihr Ende. Brüder Grimm, Kinder- u. Hausmärchen,
Große Ausgabe, 18. Aufl. Berlin, Hertz, 1882, S. 195.
38. 9!otkä^flchen. Von Jakob u. Wilhelm Grimm.
1. Wie Rotkäppchen zur Großmutter geschickt wird.
s war einmal eine kleine, süße Dirne, die hatte jeder¬
mann lieb, der sie nur ansah, am allerliebsten aber
ihre Großmutter, die wußte gar nicht, was sie alles
dem Kinde geben sollte. Einmal schenkte sie ihm
ein Käppchen von rotem Sammet, und weil ihm das
so wohl stand und es nichts anderes mehr tragen
wollte, hieß es nur das Rotkäppchen. Eines Tages sprach seine Mutter
zu ihm: „Komm, Rotkäppchen, da hast du ein Stück Kuchen und eine
Flasche Wein, bring das der Großmutter hinaus, sie ist krank und schwach
und wird sich daran laben. Mach dich auf, bevor es heiß wird, und
35 wenn du hinaus kommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Wege
ab, sonst fällst du und zerbrichst das Glas, und die Großmutter hat
nichts, und wenn du in ihre Stube kommst, so vergiß nicht .Guten
MorgenA zu sagen und guck nicht erst in alle Ecken herum!"