Full text: Haus und Vaterland I (Bd. 4 (5. Schulj.))

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4. Dev alte Sessel. 
von Sophie Reinheimer. 
Bist du schon einmal in einer Bodenkammer gewesen? Ich weiß 
eine, da ist es gar schön! So still und dunkel ist's da oben; durch das 
kleine Giebelloch kann gerade nur ein einziger Sonnenstrahl herein. 
Mitten unter vielen alten Sachen stand da ein alter lederner Gro߬ 
muttersessel. Er war erst heute morgen hier heraufgekommen und 
konnte sich noch nicht recht an die neue Umgebung gewöhnen; auch tat 
es ihm gar leid, daß man ihn aus einmal nicht mehr schön genug fand 
und auf den Boden gebracht hatte, während ein neuer, feingestickter 
Sessel nun seinen Platz am Fenster bekam. O, wie sehnte er sich zurück 
nach der Großmutterstube und seinem alten Platz, an dem er nun schon 
so viele, viele Jahre gestanden hatte! Und wie sehnte er sich erst nach 
der Großmutter! 
Ob ihr der neue Sessel, den man ihr heute morgen zum Geburts¬ 
tage schenkte, gefiel? Oder ob sie lieber ihren alten behalten hätte? 
Hatte sie sich vielleicht gar einen neuen gewünscht? 
Ach, er konnte sich noch gar nicht recht von dem Schrecken erholen, 
der arme alte Sessel. Und so ganz in traurige Gedanken versunken 
war er, daß er sich noch gar nicht weiter in der Bodenkammer umgesehen 
hatte. „Ich muß doch einmal gucken, wer neben mir steht," dachte 
er jetzt und sah nach der rechten Seite, wo dicht neben ihm eine hölzerne 
Puppenwiege stand. „O, die Puppenwiege," ries er, „meine gute alte 
Bekannte von früher!" Und er dachte an die Zeit zurück, wo sie oft 
neben ihm stand, wenn die Großmutter die Puppe in den Schlaf wiegen 
mußte, weil die kleine Hilde selber ins Bett geschickt wurde. Aber das 
war nun schon lange, lange her! Aus der kleinen Hilde war ein 
großes Fräulein geworden, und die Wiege stand hier oben leer, ver¬ 
gessen; auch der himmelblaue Vorhang war fort. 
Der Sessel seufzte; dann siel sein Blick aus eine große Kiste mit 
alten Schul- und Märchenbüchern. „Euch kenne ich auch," sagte der 
Sessel. „Das Märchen von Frau Holle habe ich wohl hundertmal ge¬ 
hört. Und die kleine Bettstelle da drüben — ach, viele Tage und Nächte 
habe ich einmal neben ihr gesessen, als Hilde die Masern hatte." 
Ja, so ein Großmuttersessel! Zu dem kommt jeder gar gerne, 
und jeder ist ihn: willkommen. Und was muß er sich nicht alles ge¬ 
fallen lassen! Bald reitet man auf seinen Armlehnen herum wie auf 
dem schönsten Reitpferd, bald wird er auf die Erde gelegt und muß 
als feiner Wagen dienen.
	        
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