Full text: Deutsches Dichterbuch ([Teil 2]. Bd. 4, Hälfte 2, [Schülerbd.])

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Deutsches Dichterbuch. 
Lind selber zu versuchen die Tugend, die er kennt, 
der wunderbaren Salbe, Abdallah nun entbrennt: 
„Mein Bruder, hör', mein Bruder, du machst es besser, traun! 
Bestreiche mein Auge, das linke, und laß die Schätze mich schaun!" 
Willfährig trtt's der Derwisch: da schaut er unterwärts 
das Gold in Kammern und Adern, das gleißende, schimmernde Erz; 
Demanten, Smaragden, Rubinen, Metall und Edelgestein, 
sie schlummern unten und leuchten mit seltsam lockendem Schein. 
Er schaut's und starrt betroffen, ihn blendet des Goldes Glanz, 
es rieselt ihm kalt durch die Adern, und Gier erfüllet ihn ganz¬ 
er denkt: „Würd' auch bestrichen mein rechtes Auge zugleich, 
vielleicht besäß' ich die Schätze und würd' unermeßlich reich." 
„Mein Bruder, hör', mein Bruder, zum letztenmal mich an, 
bestreiche mein rechtes Auge, wie du das linke getan; 
noch diese meine Bitte, die letzte gewähre du mir, 
dann scheiden unsere Wege, und Allah sei mit dir!" 
Darauf der Derwisch: „Mein Bruder, nur Wahrheit sprach mein Mund; 
ich machte dir die Kräfte von deiner Salbe kund. 
Ich will, nach allem Guten, das ich dir schon erwies, 
die strafende Land nicht werden, die dich ins Elend stieß." 
Nun hält er fest am Glauben und brennt vor Ungeduld, 
den Neid, die Schuld des Lerzens, gibt er dem Derwisch schuld; 
daß dieser sich so weigert, das ist für ihn der Sporn, 
der Gier in seinem Lerzen gesellet sich der Zorn. 
Er spricht mit höhnischem Lachen: „Du hältst mich für ein Kind, 
was sehend auf einem Auge, macht nicht auf dem andern mich blind; 
bestreiche mein rechtes Auge, wie du das linke getan, 
und wisse, daß, falls du mich reizest, Gewalt ich brauchen kann." 
Llnd wie er noch der Drohung die Tat hinzugefügt, 
da hat der Derwisch endlich stillschweigend ihm genügt; 
er nimmt zur Land die Salbe, sein rechtes Aug' er bestreicht -- 
die Nacht ist angebrochen, die keinem Morgen weicht. 
„O Derwisch, arger Derwisch, du doch die Wahrheit sprachst, 
nun heile, kenntnisreicher, was selber du verbrachst." — 
„Ich habe nichts verbrochen; dir ward, was bu gewollt; 
du stehst in Allahs Länden, der alle Schulden zollt." 
Er fleht und schreit vergebens und wälzet sich im Staub, 
der Derwisch, abgewendet, bleibt seinen Klagen taub; 
der sammelt die achtzig Kamele und gen Balsora treibt, 
derweil Abdallah verzweifelnd am Quell der Wüste verbleibt.
	        
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