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Deutsches Dichterbuch.
Zeig dich einmal, schöner Mann!
Laß dich einmal sehen:
vorn zuerst und hinten dann!
Laß dich einmal drehen!
Weh! Was müssen wir erblicken!
Fingerhütchen, welch' ein Rücken!
Auf der Schulter, liebe Zeit,
trägst du grause Bürde!
Ohne hübsche Leiblichkeit
was ist Geisteswürde?
Eine ganze Stirne voll
glücklicher Gedanken,
Llnter einem Locker soll
länger sie nicht schwanken!
Strecket euch, verkrümmte Glieder!
Garst'ger Buckel, purzle nieder!
Fingerhut, nun bist du grad,
deines Fehls genesen!
Leil zum schlanken Rückengrat!
Leil zum neuen Wesen!"
Plötzlich steckt der Elfenchor
wieder tief im Raine;
aus dem Lügelgrund empor
tönt's im Mondenscheine:
„Silberfähre, gleitest leise
ohne Ruder, ohne Gleise."
Fingerhütchen wird es satt,
wäre gern daheime,
er entschlummert laß und matt
an dern eignen Reime.
Schlummert eine ganze Nacht
auf derselben Stelle;
wie er endlich auferwacht,
scheint die Sonne helle;
Kühe weiden, Schafe grasen
cutf des Elfenhügels Rasen.
Fingerhut ist bald bekannt,
läßt die Blicke schweifen,
sachte dreht er dann die Land,
hinter sich zu greifen.
Ist ihm Leil im Traum geschehn?
Ist das Leil die Wahrheit?
Wird das Elfenwort bestehn
vor des Tages Klarheit?
Lind er tastet, tastet, tastet:
unbebürdet! unbelastet!
„Jetzt bin ich ein grader Mann!"
jauchzt er ohne Ende;
wie ein Lirschlein jagt er dann
über Feld behende.
Fingerhut steht plötzlich still,
tastet leicht und leise,
ob er wieder wachsen will?
Nein, in keiner Weise!
Selig preist er Nacht und Stunde,
da er sang im Geisterbunde —
Fingerhütchen wandelt schlank,
gleich als hätt' er Flügel,
seit er schlummernd niedersank
nachts am Elfenhügel.