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VI. Das Menschenleben.
186. Das Wasser der Jugend.
1.
es war am Tage der Sonnenwende, und die Glut des Mittags lag auf
den Ährenfeldern. Zuweilen strich von dem nahen Bergwald ein
frischer Wind herüber; dann neigten sich die Halme tief, und der Mohn am
Ackerrande verstreute seine zarten Blumenblätter. Grille und Heupferd
musizierten im Getreide, und aus dem Schlehdorn am Nain ließ die Gold¬
ammer zuweilen ihren leisen Nus ertönen. — Durch das Kornfeld, das sich
vom Tal den Berg hinanzog, schritt aus schmalem Pfad eine junge Bäuerin
von schlankem, kräftigem Wuchs. Sie trug den landesüblichen, faltenreichen
Nock und zum Schutz gegen die Sonnenstrahlen ein rotes Kopftuch; an
ihrem linken Arm hing ein Korb, und in der Rechten trug sie einen Steinkrug.
Als der Ammerling im Heckendorn ihrer ansichtig wurde, flatterte er
auf den höchsten Zweig und rief grüßend: „Mädel, Mädel, wie blüht's!"
Aber der Vogel irrte sich. Die blonde Grete war kein Mädchen, sondern
eine junge Frau, und jetzt war sie auf dem Weg zu ihrem Manne, der
droben im Forst Holz schlug.
Als die Schöne den Waldsaum erreicht hatte, blieb sie horchend stehen,
und bald verrieten ihr die Schlüge einer Holzaxt, wohin sie ihre Schritte
zu lenken habe. Es währte auch nicht lange, so erblickte sie ihren Mann,
der mit gewaltigen Hieben eine Tanne fällte, und mit frohlockender Stimme
rief sie ihn an.
„Bleib stehen, wo du stehst!" schallte es zurück, „der Baum wird
gleich stürzen." Und der Tannenbaum tat einen tiefen Seufzer, neigte sich
und sank krachend zu Boden. Jetzt kam Grete herzu, und der gebräunte
Holzfäller schloß sein junges Weib in die Arme und küßte es herzhaft.
Dann setzten sie sich auf einen Baumstamm nieder und entnahmen dem
Korb die mitgebrachte Speise. Da legte Hans das Brot wieder aus der
Hand, ergriff seine Axt und sagte: „Ich habe etwas vergessen," schritt auf
den Stumpf der gefüllten Tanne zu und hieb drei Kreuze in das Holz.
„Warum tust du das, Hans?" fragte die Frau. „Das geschieht der
Waldweiblein wegen," erklärte der Mann. „Die armen Wichtlein haben
einen schlimmen Feind, das ist der wilde Jäger. Tag und Nacht stellt er
ihnen nach und hetzt sie mit seinen Hunden. Gelingt es aber dem ver¬
folgten Weiblein, sich auf einen solchen Baumstamm zu flüchten, so kann
ihm der wilde Jäger nichts anhaben wegen der drei Kreuze." Die junge
Frau machte große Augen. „Bist du schon einmal einem Waldweiblein
begegnet?" fragte sie neugierig. — „Nein, sie lassen sich nur selten blicken.
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