II. Deutsche Sage und Geschichte.
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würde, staute sich das Volk zusammen, daß es gefährlich schien, sich mit ihm
ins Gedränge zu wagen. So führten sie ihn zum hintern Tore des Johanniter¬
hauses hinaus durch den Garten und auf Umwegen nach dem bischöflichen
Palaste. Als die Leute das merkten, drängten sie nach dem Vischofshofe
und konnten nur mit Gewalt verhindert werden einzudringen. Viele stiegen
auf die Dächer, um ihn zu sehen. Man rief ihm zu, er möge gutes
Mutes sein.
Und nun war der große Augenblick gekommen: Luther wurde in den
Saal geführt, Verantwortung zu tun vor Kaiser und Reich. Er hatte schon
vor manchem hohen Herrn gestanden, aber nimmer vor einem so glänzenden,
erlauchten Kreise. Da saß Kaiser Karl auf einem Thronsessel — in seiner
Hand lag, menschlich gerechnet, das Schicksal Luthers und seines Evangeliums.
Da saßen und standen die Kurfürsten, die Bischöfe, die Fürsten und Herren.
Da saßen und standen die Boten der freien Städte und die sonst als geist¬
liche und weltliche Räte, als Beisassen und Diener Zutritt hatten. Heute war keiner
zu Hause geblieben, der irgend kommen konnte. Luther sah aller Augen auf
sich gerichtet, doch ganz anders, als wenn die Gemeinde andächtig zu ihn:
hinaufschaute zur Kanzel, um das Wort Gottes zu hören. So mutig und
entschlossen er im innersten Herzen war, überkam ihn doch ein Gefühl der
Befangenheit, als er, unbekannt mit Sitte und Brauch an den Höfen der
Fürsten und in den Sitzungen der Reichsstände, in seinem Mönchsgewande
vor die glänzende Versammlung trat. Billigerweise hatte man ihiu denn
auch einen Rechtsbeistand zur Seite gegeben: es war sein Freund, der
Wittenberger Professor der Rechte, Hieronymus Schürf.
Laut und vernehmlich richtete der kaiserliche Sprecher, Dr. Johann Eck
aus Trier, erst auf lateinisch, dann auf deutsch an ihn eine doppelte Frage:
„Martinus Luther! Kaiser und Reich haben dich hierhergerufen, daß
du sagest und erklärest:
zum ersten, ob du diese Bücher da verfaßt hast" — er wies dabei auf
einen Stoß von etwa fünfundzwanzig Schriften — „und die andern, die
unter deinem Namen ausgegangen sind;
zum andern, daß du sagest, ob du sie widerrufen oder darauf beharren
willst."
Noch ehe Luther etwas erwidern konnte, rief sein Rechtsbeistand
Schürf: „Man lese die Titel der Bücher!" Das geschah. Hierauf gab Luther
seine Antwort. Er sprach mit leiser, schwer vernehmbarer Stimme, was
einigen scheinen mochte, als ob er erschrocken und entsetzt wäre. Auf die
erste Frage antwortete er, daß er die Bücher allerdings geschrieben habe
und noch andere mehr und daß er sich noch immer dazu bekennen werde.
Fürs zweite sei er befragt, ob er aufrecht erhalten wolle, was er geschrieben
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