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Und wenn wir etwa meinen wollten, dafür sei der Staat, den sich
überhaupt manche fälschlich nur als einen unbequemen Gebieter denken,
nicht notwendig, das nämliche ließe sich auch durch eine einfache Verab¬
redung der Bürger untereinander erreichen: so fragt euch uur, wie lange
es mit dem guten Willen aller einzelnen Mitglieder einer solchen Gesell¬
schaft dauern würde, an der jemand nur teilnähme wie etwa an einem
Gesangverein, wie lange es dauern würde, wenn nicht das zwingende
Band des Staates das Ganze zusammenhielte! Gewiß ist es eine lobens¬
werte Sache um die vielen Vereine, welche die Menschen, zumal in unseren
Zeiten, gründen, um gewisse gemeinschaftliche Zwecke zu erreichen, wie
z. B. Sparkassen, Witwenkassen, Lebens-, Feuer-, Wasser- und Hagel¬
versicherungen u. dgl. Aber alle diese Genossenschaften können sich nur
bilden, wo schon ein Staat vorhanden ist, und sie haben ihren Bestand
nur unter dem Schutze der staatlichen Ordnung. Die Stadt- und Dorf¬
gemeinde kann ihre Zwecke nur erfüllen, insofern sie als ein Glied in
jenes größere Ganze eingefügt ist.
Der Leib einer Pflanze oder eines Tieres ist nicht eine bloße
Zusammenreihung seiner Teile; es ist ein lebendiges, ein unteilbares
Ganzes. Die einzelnen Teile bilden seine Glieder und dienen ihm als
Werkzeuge oder Organe für seine Ernährung, sein Wachstum und seine
übrigen Lebensverrichtungen. Alle diese Glieder stehen im Zusammen¬
hange, und jedes ist dem Ganzen notwendig. Ganz ähnlich nun verhält
es sich mit dem Staat. Auch er ist ein organisches Gebilde, ein gesell¬
schaftlicher Organismus. Auch in dem Staatskörper bewegt sich ja eine
Fülle von Kräften auf und ab, und nährender Saft geistigen und sittlichen
Lebens durchtränkt das in steter Entwicklung begriffene Ganze. Auch
in ihm findet eine reiche Gliederung und ein unzerreißbarer Zusammen¬
hang der einzelnen Teile statt, und ein jeder ist gleichsam ein notwendiges
Blatt, ja eine Frucht und, wolle Gott, eine recht gesunde Frucht auf beni
weit ausgebreiteten Baume. Oder ist etwa der Landmann dem Ganzen
weniger notwendig als der Handwerker? Haben die Gelehrten und
Künstler nicht ebensogut ihre Bestimmung in diesem Wunderbau wie der
Arzt und der Richter, der Kaufmann und der Fabrikant, der Pfarrer und
Lehrer? Der König steht höher als der Untertan, der Bürgermeister hat
den Vorrang vor dem einfachen Bürger; aber einen König gibt es nicht
ohne Untertanen, einen Bürgermeister nicht ohne Gemeinde. Und für das
Ganze ist jeder Teil wichtig, wie in einer Uhr auch das kleinste Rädchen
nicht fehlen darf.
Der Staat also ist es, der die gegenseitigen Beziehungen seiner Bürger
regelt, sie in der Ausübung ihrer Tätigkeit schützt und fördert, der die
Gesetze über Eigentum, Gewerbebetrieb, Landeskultur, Bildungswesen usw.
gibt uud aufrecht erhält, der die Strafen für Übertretungen ansetzt und
die Wächter des Gesetzes bestellt, der durch seine Heeresmacht und Bünd-