6. Unser Versicheningswesen* Von Gustav Johannes Krauß.
„Zur guten Stunde“. Berlin. Jahrg. 1897. Spalte 453 u. ff.
Wye gegenwärtige Gesellschaftsordnung sagt dem Einzelnen: „Arbeite
und erwirb, und Du wirst haben, was du brauchst!"
Das ist ganz schön und ganz in der Ordnung, solange es nur ein
regelmäßiges, natürliches, vorauszusehendes Bedürfnis zu befriedigen gilt.
Ich weiß, daß ich morgen essen muß, ich weiß, daß ich im Frühjahr
einen neuen Anzug brauche — ich muß daher heute arbeitet! und im
Winter sparen, sonst muß ich morgen Hunger leiden, und wenn die kräftig
warme Junisonne scheint, in den dicken Kleidern laufen. Die Angst vor¬
der Not hält also mich zur Arbeit an, und indem sie an jedem andern
dasselbe tut, bewirkt sie, daß die Welt jetzt voll reger, geschäftiger, Frucht
bringender Arbeit ist, die ohne sie eine große Bärenhaut wäre, bevölkert
von Millionen und aber Millionen träge sich rekelnder, laut gähnender
Bärenhäuter. Das Schnarchen und Gähnen all der Faulpelze auf der
ganzen Erde würde einen solchen Höllenlärm machen, daß unsere Nachbarn
ans dem Abendstern nicht schlafen könnten und ihre Sterngucker die selt¬
samsten Theorien aushecken müßten zur Erklärung der mißtönigen Musik,
die ans dem Weltenraume zu ihnen dränge.
Es ist gut, daß jeder nur das verbrauchen kann, was er vorher er¬
worben hat. Zur Befriedigung der laufenden Bedürfnisse ist das ganz
zweckmäßig eingerichtet. Außerordentlichen Bedürfnissen gegenüber, wie
sie plötzlich und unversehens eintretende Unglücksfälle mit sich bringen,
versagt aber unser Wirtschaftssystem, das jeden auf seine eigenen Beine
stellt. Diese armen eigenen Beine knicken ein unter der Last, die so ein
plötzlich eintretendes Unglück dem Menschen auf den Nacken lädt.
Nehmen wir zum Beispiel einen kleinen Bauern, der in harter Arbeit
dem Stückchen Boden, das er besitzt, soviel abringt, daß er mit Weib und
Kindern davon leben kann, nicht mehr. Ans einmal bricht ein Feuer aus
und brennt seine Hütte nieder. Was soll der Arme jetzt tun? Ohne
Haus kann er nicht leben; verkauft er aber sein Feld, um von dem Erlös
das Haus wieder aufrichten zu lassen, kann er auch nicht leben. Er
mußte also früher als „Brandbettler" ins Land hinausziehen und soviel
Almosen zu sammeln trachten, daß er davon die Balken und Steine und
was sonst zum Hausbau gehört, sowie den Maurer und Zimmermann
bezahlen konnte. Mancher ist darüber ans dem Brandbettler ein Gewerbs-
bettler geworden.
Um diesem Jammer ein Ende zu machen, wandten sich die Menschen
endlich an die Wissenschaft und sagten: „Liebe Wissenschaft, du hörst ja
das Gras wachsen und die Mücken husten, du wirst auch etwas wissen,
das uns vor dem Brandnnglück bewahrt."