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Sie küßte scheidend jung' und frische Wangen,
Die jetzt von tiefer Grabesnacht umfangen;
Jst's Wunder, daß sie tödlich aufgeschreckt?
In Träumen steigt das Krankenbett empor.
Und Züge dämmern wie in halber Nacht;
Wer ist's — sie weiß es nicht und spannt das Ohr,
Sie horcht mit ihrer ganzen Seele Macht;
Dann fährt sie plötzlich auf beim Windesrauschen
Und glaubt dem matten Stöhnen noch zu lauschen
Und kann erst spät begreifen, daß sie wacht.
Doch sieh, dort fliegt sie übern glatten Flur,
Ihr aufgelöstes Haar umfließt sie rund,
Und zitternd ruft sie mit des Weinens Spur:
„Ein Brief, ein Brief, die Mutter ist gesund!"
Und ihre Tränen stürzen wie zwei Quellen,
Die überall aus ihren Ufern schwellen;
Ach, eine Mutter hat man einmal nur!
Nikolaus Lenau.
1802-1850.
Sämtliche Werke. 2. Band. Stuttgart o. J.
1. Schilf lied.
1. Auf dem Teich, dem regungslosen.
Weilt des Mondes holder Glanz,
Flechtend seine bleichen Rosen
In des Schilfes grünen Kranz.
2. Hirsche wandeln dort am Hügel,
Blicken in die Nacht empor;
Manchmal regt sich das Geflügel
Träumerisch im tiefen Rohr.
3. Weinend muß mein Blick sich senken;
Durch die tiefste Seele geht
Mir ein süßes Deingedenken
Wie ein stilles Nachtgebet.
3. Die drei Zigeuner*
1. Drei Zigeuner fand ich einmal
Liegen an einer Weide,
Als mein Fuhrwerk mit müder Qual
Schlich durch sandige Heide.
2. Hielt der eine für sich allein
In den Händen die Fiedel,
Spielte, umglüht vom Abendschein,
Sich ein feuriges Liedel.