5. O lieb', solang du lieben kannst!
O lieb', solang dn lieben magst!
Tie Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst!
6. Dann kniest du nieder an der Gruft
Und birgst die Augen, trüb und naß,
— Sie sehn den andern nimmermehr —
Ins lange, feuchte Kirchhofsgras
7. Und sprichst: „O schau' auf mich herab,
Ter hier an deinem Grabe weint!
Vergib, daß ich gekränkt dich hab'!
O Gott, es war nicht bös gemeint!"
8. Er aber sieht und hört dich nicht,
Kommt nicht, daß du ihn froh umfängst;
Der Mund, der oft dich küßte, spricht
Nie wieder: „Ich vergab dir längst!"
9. Er tat's, vergab dir lange schon,
Doch manche heiße Träne fiel
j Um dich und um dein herbes Wort —
Doch still — er ruht, er ist am Ziel!
10. O lieb', solang du lieben kannst!
O lieb', solang dn lieben magst!
Die Stunde kommt, die Stunde kommt,
Wo du an Gräbern stehst und klagst!
2. Oie kiläerbibel.
1. Du Freund aus Kindertagen,
Du brauner Foliant,
Oft für mich aufgeschlagen
Von meiner Lieben Hand!
Du, dessen Bildergaben
Mich Schauenden ergötzten,
Den fpielvergeßnen Knaben
Nach Morgenland versetzten:
2. Du schobst für mich die Riegel
Von ferner Zone Pforten,
Ein kleiner, reiner Spiegel
Von dem, was funkelt dorten!
Dir Dank! Durch dich begrüßte
Mein Aug' eine fremde Welt,
Sah Palm', Kamel und Wüste
Und Hirt und Hirtenzelt.
3. Du brachtest sie mir näher,
Die Weisen und die Helden,
Wovon begeisterte Seher
Im Buch der Bücher melden;
Die Mädchen schön und bräutlich,
So ihre Worte schildern.
Ich sah sie alle deutlich
In deinen seinen Bildern.
4. Der Patriarchen Leben,
Die Einfalt ihrer Sitte,
Wie Engel sie umschweben
Aus jedem ihrer Schritte,
Ihr Ziehn und Herdentränken,
Das hab' ich oft gesehn,
Konnt' ich mit stillem Denken
Vor deinen Blättern stehn.
5. Mir ist, als lägst du prangend
Dort aus dem Stuhle wieder;
Als beugt' ich mich verlangend
Zu deinen Bildern nieder;
Als stände, was vor Jahren
Mein Auge staunend sah.
In frischen, wunderbaren,
Erneuten Farben da;
6. Als säh' ich in grotesken,
Verworrenen Gestalten
Aufs neue die Moresken,
Die bunten, mannigfalten,
Die jedes Bild umfaßten,
Bald Blumen, bald Gezweig,
Und zu dem Bilde paßten,
An sinniger Deutung reich;