Theodor Storm.
1817—1888.
Sämtliche Werke. Neue Ausgabe. 8. Band. 5. Auflage. Braunschweig 1900.
1. (ßeeresitrand.
1. Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämmrung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.
2.. Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel aus dem Meer.
3. Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen —
So war es immer schon.
4. Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der' Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.
2. Ollern.
1. Es war daheim aus unsrem Meeresdeich;
Ich ließ den Blick am Horizonte gleiten;
Zu mir herüber scholl verheißungsreich
Mit vollem Klang das Osterglockenläuten.
2. Wie brennend Silber funkelte das Meer,
Die Inseln schwammen auf dem hohen Spiegel,
Die Möwen schossen blendend hin und her.
Eintauchend in die Flut die weißen Flügel.
3. Im tiefen Koge bis zum Deichesrand
War sammetgrün die Wiese aufgegangen;
Der Frühling zog prophetisch über Land,
Die Lerchen jauchzten, und die Knospen sprangen. —
4. Entfesselt ist die Urgewalt'ge Kraft,
Die Erde quillt, die jungen Säfte tropfen.
Und alles treibt, und alles webt und schafft.
Des Lebens vollste Pulse hör' ich klopfen.
5. Der Flut entsteigt der frische Meeresduft;
Vom Himmel strömt die goldne Sonnenfülle;
Der Frühlingswind geht klingend durch die Luft
llnd sprengt in: Flug des Schlummers letzte Hülle.