Contents: Für die oberen Stufen mehrklassiger Schulen (Teil 2, [Schülerbd.])

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Mitmenschen gewiesen ist. So waren denn hier eine Menge Bettler, 
Orgelmänner, Harfenmädchen, die sich ihren Kreuzer zu verdienen suchten. 
In Wien lebte damals ein Invalide, dem seine kleine Pension zum 
Unterhalte nicht ausreichte. Betteln mochte er nicht. Er griff daher zur 
Violine, die er von seinem Vater erlernt hatte, der ein Böhme gewesen 
war. Er spielte unter einem alten Baume im Prater, und seinen treuen 
Pudel hatte er so abgerichtet, daß der vor ihm saß und den alten Hut 
im Munde hielt, in den die Leute die paar Kreuzer warfen, die sie ihm 
geben wollten. Heute stand er auch da und fiedelte, und der Pudel saß 
vor ihm mit dem Hute; aber die Leute gingen vorüber, und der Hut 
blieb leer. Hätten ihn die Leute nur einmal angesehen, sie hätten Barm— 
herzigkeit mit ihm haben müssen. Dünnes, weißes Haar deckte kaum 
seinen Schädel; ein alter, fadenscheiniger Soldatenmantel war sein Kleid. 
Gar manche Schlacht hatte er mitgekämpft, und fast jede hatte ihm in 
einer Narbe einen Denkzettel angehängt, bei dem für das Verlieren keine 
Sorge nötig war. Nur drei Finger an der rechten Hand hielten den 
Bogen. Eine Kartätschenkugel hatte die zwei andern bei Aspern mitge— 
nommen, und fast zu gleicher Zeit nahm ihm eine größere Kugel das 
Bein weg. Und doch sahen heute die fröhlichen Leute nicht auf ihn, und 
er hatte doch für den letzten Kreuzer Saiten auf seine Violine gekauft 
und spielte mit aller Kraft seine alten Märsche und Tänze. — Trübe 
und traurig sah der alte Mann auf die wogende Menschenmasse, auf die 
fröhlichen Gesichter, auf die stolze Pracht ihres Putzes. Bei ihrem 
Lachen drang ein Stachel in seine Seele; heute Abend mußte er hungern 
auf seinem Strohlager im Dachstübchen. Sein Pudel war in der That 
besser dran; er fand doch vielleicht auf dem Heimwege einen Knochen 
unter einem Gußsteine, an dem er seinen Hunger stillen konnte. 
Schon war's ziemlich spät am Nachmittage. Seine Hoffnung war 
so nahe am Untergange wie die Sonne; denn schon kehrten die Lust— 
wandler zurück. Da legte sich ein recht tiefes Leid auf das wetterharte, 
vernarbte Gesicht. Er ahnte nicht, daß nicht weit von ihm ein stattlich 
gekleideter Herr stand, der ihm lange zuhörte und ihn mit dem Aus— 
drucke tief empfundenen Mitleids betrachtete. — Als endlich alles fruchtlos 
blieb, und die müde Hand den Bogen nicht mehr führen konnte, auch 
sein Bein ihn kaum mehr trug, setzte er sich auf einen Stein und stützte 
die Stirne in die hohle Hand, und die Erde saugte einige heimliche 
Thränen ein, und die sagt's nicht wieder. 
Der Herr aber, der dort am Stamme der alten Linde lehnte, 
hatte gesehen, wie die verstümmelte Hand die Thränen abwischte, damit
	        
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