2. Hn der Schwelle des Nordpols. von Georg «legener.
Velhagen & Klasings Monatshefte. 13. Jahrg. (1898/99.) 2. Band. S. 589.
ernt wir die südlichen Fjorde Norwegens, die Stätten,
welche der landläufige Touristenstrom allsommerlich durch¬
schwärmt, hinter uns gelassen haben, wenn wir nord¬
wärts von Drontheim an Bord unseres Dampfers durch
die Schären gleiten, so empfängt uns eine seltsam gro߬
artige Welt, die ihren Zauber auf kein empfängliches
Gemüt verfehlen kann. Zwischen zwei großen Einsam¬
keiten führt uns der Weg hindurch: zur Rechten begleitet uns das düstere
Urgesteinsplateau Norwegens, dessen Inneres menschenleere Steinwüsten
und Schneefelder erfüllen, zur Linken dehnt sich die Wasserwüste des
Weltmeeres ans. Zwischen beiden führt der schmale Schiffahrtsweg, an
dem wie Perlen an einem Faden die kleinen Ansiedelungen angereiht sind,
deren Kette uns bis zum Nordkap hinauf leitet. Tag um Tag gleitet
das Schiff Zwischen Felsinseln dahin, Tausende von „Schären" ziehen an
uns vorüber, alle gleich in ihrem ernsten, trotzigen Felsban, alle ver¬
schieden in dem unerschöpflichen Reichtum ihrer phantastischen Formen.
Und noch etwas anderes tritt für den Reisenden hinzu, was die
Seltsamkeit der Stimmung, das Gefühl, daß wir einer neuen Welt ent¬
gegengehen, erhöht: die wachsende Helligkeit der Nächte. Staunend
bemerken wir, wie es nicht mehr dunkel werden will; bleiche, weiche
Dämmerung umfließt die Nähe und Weite, in der alle Perspektiven
verschwimmen, die Wasser des Meeres wie von einem inneren Lichte
schimmern und die Felsen wie seltsame Schattengebilde über ihm schweben.
Auf diese Dämmerungsnächte, die immer lichter werden, je weiter
wir nach Norden eilen, folgt dann endlich eine, in der die Sonne gar¬
nicht mehr verschwindet, sondern um Mitternacht in tiefroter, feuchter
Glut unmittelbar über bent Rande des westlichen Meeres schweben bleibt.
Ein Strom glühenden Goldes rinnt von ihr über die zitternde Meeres¬
fläche zu uns herüber; in ihm schweben wie schwarze, gespenstische Schatten¬
risse die Inseln des Schürenhofs. Am Himmel aber baut sich in
flammender Pracht ein Wolkenpalast empor,, der uns an die Hallen von
Asgard gemahnt.
Wir sind nun im Reich der Mitternachtssonne. In Tromsö, nördlich
von den Lofoten, währt der ununterbrochene Mittsvmmertag schon vom
18. Mai bis zum 20. Juli, am Nordkap bereits nahezu drei Monate,
vom 11. Mai bis Zum 1. August. In den höheren Breiten streift die
Mitternachtssonne aber nicht mehr den Horizont, sondern sie bleibt in
der Höhe einer Vor- oder Nachmittagssonne stehen, und ihr Licht behält
deshalb auch den Charakter einer solchen, d. h. wir haben einfach einen
Hellen Tag ohne Besonderheiten. Der eigentliche Zauber des Mittnacht-