Full text: [Teil 5 = Kl. 3, 2 u. 1, [Schülerbd.]] (Teil 5 = Kl. 3, 2 u. 1, [Schülerbd.])

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3. Londoner Uebel* Von ©uftav f. Steffen. 
In derFünfmillionenstadt. Aus dem Schwedischen von O.Rey her. Leipzig 1895. 8.17. 
o ein richtiger Londoner Nebel, der alle vier bis fünf 
Millionen Bewohner der Stadt jeden Herbst und jeden 
Winter zwingt, tage-, ja wochenlang ein vorüber¬ 
gehendes Maulwurfsleben zu führen, ist ebensosehr ein 
Erzeugnis der Kultur wie der Natur. 
Nehmen wir einmal an, wir befänden uns draußen 
auf dem Lande, zwanzig Kilometer nördlich vom Mittel¬ 
punkte des unendlichen Gebietes der Hauptstadt. Es ist zeitig am Morgen, 
der Himmel erscheint wolkenlos, der Weltraum von blendendem Lichte erfüllt. 
Bloß tief unten am Horizonte lagert ein leichter Dunst, der den Farben der 
Landschaft jenen herrlichen Silberton verleiht, der den größten Reiz der 
englischen Natur bildet. Einem ungewöhnlich angenehmen Arbeitstage in 
London entgegensehend, gehen wir zur Bahnstation hinunter und dampfen 
nach der Riesenstadt an der Themse. Nach Gewohnheit der Londoner 
Geschäftsleute vertiefen wir uns in das Lesen einer Morgenzeitung; da 
ruft nach zehn oder fünfzehn Minuten ein kleiner Bursche neben uns im 
Bahnwagen, indem er seine Begleiterin am Kleide zupft, mit geheimnisvoller 
Miene: „Sieh einmal da den Mond, Mama!" Wir wenden das Ge¬ 
sicht nach dem Fenster und starren hinaus in den weißen, undurchdringlich 
erscheinenden Dunst, in dem ein Etwas schwebt, das einer purpurroten 
Kugel von zwanzig Zentimeter Durchmesser ähnelt. Leider ist das nicht 
der Mond, sondern die Sonne, die so sonderbar aussieht. Jetzt kommt 
uns eine unheimliche Ahnung. Nach weiteren fünf Minuten der Fahrt ist 
der Nebel schwefelgelb und undurchsichtig wie eine Mauer. Fernere 
Beobachtungen werden uns dadurch abgeschnitten, daß der Zug in einen 
Tunnel der Untergrundbahn hineinstürmt, der von Steinkohlenrauch und 
Nebel so erfüllt ist, daß wir ohne sofortige Schließung des Wagenfensters 
ersticken müßten. Das regelmäßige Poltern der Lokomotive verwandelt 
sich nun zum zögernden Stöhnen. 
Der Zug fährt langsamer als sonst; denn heute sind alle Signal¬ 
lichter schon bei zehn Meter Abstand völlig unsichtbar, und da die Züge 
der Londoner Untergrundbahn unter gewöhnlichen Umständen mit nur 
vier bis fünf Minuten Zwischenzeit einander folgen, so ist die Gefahr 
eines Zusammenstoßes nicht unbedeutend. Die Lage wird bald unerträglich. 
Mit jedem Haltepunkte wird das Gedränge schlimmer. Die Tausende 
von Handlungsgehilfen, Kontoristen und Geschäftsleuten, die zu früher 
Morgenstunde nach dem Herzen Londons hineinströmen, müssen um jeden 
Preis mit; denn jeden Augenblick ist eine weitere Verdichtung des Nebels 
zu befürchten, die zur gänzlichen Einstellung des Verkehrs zwiugen könnte. 
Man setzt sich einander auf die Knie und packt sich im Gange gleich
	        
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