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Marschenbuch. Land- und Volksbilder aussen Marschen der Weser und Elbe. 4. Ausl.
Oldenburg und Leipzig. Schulzesche Hof-Buchhandlung (A. Sehwartz).
2. Ein Tag auf dem Marschhofe.
1. Möge mich der geneigte Leser auf einen großen Marschhof echter
Art, wie er mir im Geist vorschwebt, begleiten, um ein anschauliches Bild
voni Leben und Treiben desselben zu erhalten. Wählen wir zu unserm
Besuche die Zeit gegen Ostern, wo noch Winter- und Frühlingsarbeit zu¬
sammenfallen. — Es ist frühmorgens. Die alte Hausuhr im Vorplatz,
deren hohes, schnörkelreiches Holzgehäuse im Laufe der Jahre fast ganz
schwarzbraun geworden ist, und die dem Hause schon manche frohe und
traurige Stunde gemeldet hat, schlägt eben fünf, aber seit länger als einer
Stunde herrscht schon überall das rührigste Treiben. Aus der Diele dreschen
eben vier Tagelöhner das letzte Korn, eine Magd schlägt die Garben um
und schwingt dann und wann auch wohl selbst rüstig den Flegel. Die
andre Magd hat eben gemolken und trägt die Milch in die Küche, wo die
zwanzigjährige älteste Tochter des Hauses, ein umsichtiges und still em¬
siges Mädchen, sie in Empfang nimmt und durch ein blankes Messingsieb
mit eingelegtem Tuche in flache Baljen (hölzerne Bütten) seihet. Auf dem
Herde aber flammt schon unter dem Kessel mit der Morgensuppe ein lustiges
Feuer. Im Oldenburgischen ist meistens Buttermilchsuppe, in Osterstade
aber Grütze oder heiße süße Milch, in welche Schwarzbrot gebrockt wird, die
gewöhnliche Morgenkost. Diese älteste Tochter ist allein zu Hause und führt
den ganzen Haushalt; denn die jüngere ist noch in Oldenburg bei einer
alten Dame in Pension.
Aus dem Pferdestalle dringt Lärm, Wiehern und Schlagen der Acker¬
pferde, dann lautes Schelten des Großknechts mit dem vierzehnjährigen
„Schwöpenjungen" (wörtlich Peitschenjungen, wie die Buben, welche man
auf den Marschhöfen nur zum Fahren mietet, genannt werden); denn schon
seit zehn Minuten hat die alte Lotte kein Futter mehr in ihrer Krippe. Auch
der Sohn des Hausherrn, der unterdes aufgestanden, tritt in den Stall,
sieht alles nach und nimmt redlich am Schelten mit teil.
2. Aber plötzlich ertönt ein Zauberwort, das allem Leben und Treiben
eine andre Gestalt gibt. Aus der halb geöffneten Vorplatztür steckt nämlich
die eine Magd ihren Kops und ruft laut und mit heller Stimme die Diele
hinab: „Rinkamen! — Wat eten!" Noch ein paar Schläge — und das
Geklapper der Drescher verstummt; schnell wird noch einigen Pferden neues,
wohlgenäßtes Häcksel eingeschüttet, und in wenigen Minuten sitzt alles um
die große dampfende Zinnschüssel mit süßer aufgekochter Milch und wartet,
bis der präsidierende Großknecht, der eben mit gewaltiger Arbeit vom
mächtigen Schwarzbrot daumdicke Schnitte „knigt", mit seinem Werke fertig
ist. Schnell ist die Schüssel voll gebrockt und nun alles in vollem Essen,