Full text: Deutsche Prosa und Poesie (Teil 4, [Schülerbd.])

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Düne geworfen, und das donnernde Brausen der erzürnten Wasser über¬ 
schrie das Weinen der Menschen. 
Und das fühlten sie, daß ihr Klagen und Weinen doch von dem wilden 
Wasser übertönt wurde. Da gaben sie es auf, zu klagen und zu weinen, 
und wurden ein hartes Geschlecht, ein Geschlecht von wenig Worten, von 
tiefen, stillen Gedanken, von trotzigem Gesicht, von aufbrausendem Zorn. 
Sie wurden wie das Meer, tief, lauernd, aufbrausend, gewaltig, ein Ge¬ 
schlecht von Riesen an Leib und Seele. 
2. Jahrhunderte versanken; da gingen sie gegen ihren wilden, ge¬ 
waltigen Feind zum Angriffe vor. Nichts Größeres ist auf der Welt 
von Menschengeist und Menschenhand geschehen als dieser Sieg der Men¬ 
schen über das gewaltige Meer, dieser ungeheure Gedanke, aus die aus¬ 
gestreckten gierigen Arme des unendlichen Meeres mächtige Erdmassen zu 
werfen . . . Und wie haben sie gearbeitet! Wie haben die alten Grau- 
köpse ihre Hände über die Augen gelegt, haben mit den scharfen Augen 
über das Meer gesehen und haben auf Flut und Strömung geachtet! 
Wie haben sie in den niedrigen Häusern an den Eichentischen gesessen, 
während der Weststurm vorüberheulte und die Wellen an ihren Wersten 
fraßen, und haben den Kopf in die Hände gestützt und haben gerechnet 
und gezeichnet und untersucht über Werstbauten und Böschungen, über 
Erd- und Grasarten! Und wie haben die Jungen gearbeitet, gekarrt, 
getragen! Wie haben sie sich selbst in die Sielen gelegt und die schwere, 
feuchte Erde zum Berg gemacht, zum langen, meilenweiten Berg, drei, 
vier und fünf Mann hoch, je nach dem Feind, der da draußen lauerte, 
da weit draußen, von wo das heisere Bellen des Seehunds zu den Ar¬ 
beitern herüberklang. 
3. Und der Feind kam! Und sie standen alle aus dem Deiche, dem 
Werk ihrer fleißigen Hände. Es hob sich die See, es wühlte in ihrer 
Tiefe, wie wenn gewaltige Tiere auf ihrem Grunde sich reckten und kehrten, 
und siehe .... da springt die erste Welle! 
„Siehst du, Hans, den weißen Gischt? . . . Dort! Sie ist wenigstens 
fünf Ruten lang. Der Sturm ist Südwest, und er meint es gut! Sieh 
dort: zwei, drei Wellen! Vier!" 
„Siehst du es, Martje? Es flattert wie Mähnen von weißen Rossen! 
Der Wind ist kalt, Martje, so kalt wie vor fünf Jahren, als ich auf 
dem Rasen der Hütte saß die ganze lange Nacht, und dann zitierte es 
unter mir und riß wie ein gefangner Fuchs an seiner Kette, und dann 
war's los! Du bist noch jung, Martje, aber ich sage dir, das ist ein 
merkwürdiges Ding, wenn man auf seinem Hause reitet durch die wilden 
Wellen in schwarzer Nacht, und nur Gott weiß, wohin die Reise geht." 
Da ist sie, die tolle Springflut, jetzt kommt sie in hüpfenden Wellen, 
ein Siegeszug gegen die armseligen Wohnungen der Menschen. Jetzt will
	        
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