§ 21. Der Göttinger Dichter- oder Hainbund. § 22. Voß.
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Hainbundgenossen Grafen Leopold zu Stolberg, mit welchem er sich jedoch
später wegen Übertritts desselben zum Katholicismus aufs bitterste ver¬
feindete. Im Jahre 1805 ging er mit dem Titel eines badischen Hofrates
nach Heidelberg, wo er im Jahre 1826 starb.
Die Bedeutung von Voß, dem die Musen bei seiner Geburt gerade
nicht gelächelt, liegt nicht in seinen trockenen und verstandesmäßig ge¬
haltenen Liedern und Oden, sondern in seinen mit gemütlicher Behaglichkeit
geschriebenen Idyllen und seiner meisterhaften Übersetzung des
Homer. Unter den kleineren Idyllen ragt hervor: „Der siebzigste
Geburtstag", eine Perle poetischer Kleinmalerei. Seine umfangreichste
Idylle ist: „Luise, ein ländliches Gedicht in drei Gesängen"
(1. „Das Fest im Walde", gefeiert von Luise, der Tochter des Pfarrers
zu Grünau, von ihren Eltern und ihrem Bräutigam an ihrem Geburts¬
tage; 2. „Der Besuch" des Bräutigams Walther, Pfarrers zu Seldorf;
3. „Die Vermählung"), in welchem in naturgetreuer, anmutiger Weise das
ländliche Stillleben geschildert und gefeiert wird. Jedoch findet sich auch
in dieser Idylle, gleichwie in den übrigen, zu wenig Handlung, und die
Personen treten nicht hinreichend individuell hervor. Mit Recht sagt
daher Kurz: „Es sind treffliche Daguerreotype, in denen alles richtig und
mit der gewissenhaftesten Genauigkeit der Natur nachgebildet ist; aber
wie diesen, so fehlt auch ihnen die schaffende Hand des Künstlers, der
nicht bloß die äußeren Umrisse, sondern auch die Seele zur Erscheinung
zu bringen vermag."
Höher zu schätzen ist Voß als Ü b e r s e tz e r, namentlich des Homer.
Den Geist und das Wesen der griechischen und römischen Dichtung klar
und scharf erfassend, strebte er nach genauer Wiedergabe seines Originals
in Inhalt und in Form. Treffend sagt Scherer: „Endlich erschien der
wirkliche Homer in deutschem Gewände, schlicht, einfältig, treuherzig, im
Tone weder zu niedrig noch zu hoch, im Stile verständnisvoll nachgebildet,
das Formelhafte nicht verwischt, die Beiwörter glücklich bewahrt, ein
Werk hingebenden Fleißes und ernster Vertiefung, überall auf einer klaren
Anschauung altgriechischer Zustände ruhend." Der Übersetzung der Odyssee
vom Jahre 1781 folgte die der Ilias erst im Jahre 1793. Minder ge¬
lungen sind seine Übersetzungen des Vergil, Horaz, Ovid, Tibull, Properz,
Hesiod, Theokrit, Äschylus und Aristophanes, verfehlt ist die des Shake¬
speare. Voß hat sich durch diese Übersetzungen ein unleugbares Ver¬
dienst um die Litteratur erworben, denn abgesehen davon, daß er den
größten Epiker des Altertums und die übrigen altklassischen Dichter weiteren
Kreisen des Volkes zugänglich machte, gab er der deutschen Prosodie und
Metrik eine größere Festigkeit und bereicherte die Sprache durch eine Reihe
volkstümlicher und trefflicher Wortbildungen.